Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
schauderte. Balthazar umarmte mich fester, als wollte er mich vor dem herbstlichen Wind schützen, und das half ein bisschen. »Okay, wenn Geister sich vor Vampiren fürchten, dann halten sie sich vermutlich von dieser Schule fern. Und du sagst, dass die Steine und das Metall im Gebäude sie ebenfalls abhalten sollten. Aber wenn das der Fall ist, wie erklärst du dir dann, was ich letzte Nacht gesehen habe?«
Ich beschrieb ihm alles, das knirschende Geräusch des Eises, das überirdische, grünblaue Glühen, das Gesicht des Frostmannes und seine letzte Warnung, die wie berstendes Glas geklungen hatte. Balthazar starrte mich an, die Augen weit aufgerissen, und jeder Gedanke daran, romantische Gefühle vorzutäuschen, war offensichtlich verflogen. Als ich am Ende angekommen war, starrte er mich noch einige Sekunden lang an, ehe er in der Lage war zu antworten: »Das kann nur ein Geist gewesen sein.«
»Hab ich ja gesagt.«
»Das ist die dramatischste Manifestation, von der ich je gehört habe. Bei Weitem. Und was kann das bedeuten: ›Aufhören.‹ Womit sollst du denn aufhören?«
»Ich kann doch auch nur raten. Hey, gibt es einen Unterschied zwischen Gespenstern und Geistern? Sind Geister superböse Gespenster oder so?«
»Nein. Es sind einfach nur zwei Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache.« Er legte mir eine Hand auf den Arm. »Wir müssen es Mrs. Bethany melden.«
»Was? Das geht nicht.« Ich klammerte mich an sein Sweatshirt, und das Wappen von Evernight - zwei Raben rechts und links von einem Schwert - legte sich unter meinen Fingern in Falten, ehe mir auffiel, wie das wohl für jeden aussehen musste, der uns beobachtete. Rasch legte ich die flache Hand auf seine Brust, so wie eine Freundin es tun würde. »Balthazar, wenn wir ihr davon erzählen, dann wird sie wissen wollen, was ich da oben im Aktenraum zu suchen hatte.«
»Und was hattest du da zu suchen?«
»Ich habe versucht, herauszufinden, warum Mrs. Bethany plötzlich auch Menschen in Evernight aufnimmt.«
Balthazar dachte über diese Frage nach, dann wischte er sie beiseite, um stattdessen nach einer guten Erklärung für Mrs. Bethany zu suchen. »Wir könnten so tun, als ob wir uns dort oben heimlich getroffen haben. Und du hast diese Erscheinung gesehen, bevor ich hochkam.«
»Das könnte klappen«, gab ich zu. »Lucas und ich haben uns immer … Also, wir sind da auch schon mal hochgeschlichen.«
Balthazars dunkle Augen wurden bei der Erwähnung von Lucas’ Namen ein wenig schmaler, und ich wusste, dass er meine Reaktion auf die Erinnerung an die Stunden, die Lucas und ich in diesem Raum verbracht hatten, spüren konnte. Wärme durchflutete mich, als ich daran dachte, wie Lucas und ich uns geküsst hatten, wie ich in seinen Armen gelegen und zugebissen hatte, um möglichst viel Blut zu trinken, das er mir freiwillig gab. Spiegelten sich etwa meine Gedanken auf meinem Gesicht wider? Was auch immer es war - Balthazars Stimme war heiser, als er antwortete: »Gut. Das macht die Geschichte nur noch glaubwürdiger. Ich werde ihr alles berichten; du musst nicht dabei sein. Ich werde sagen, du würdest dich zu sehr schämen, um selbst zu ihr zu gehen.«
»Der Teil der Angelegenheit stimmt immerhin.«
»Danach wird sie nach den Geistern Ausschau halten, und vermutlich wird sie deinen Eltern von uns erzählen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Ich schätze, so wird es laufen.« Erschöpft lehnte ich mich wieder an Balthazars Schulter. »Danach habe ich überhaupt nicht mehr geschlafen. Ich fühle mich, als wenn ich gleich umfalle vor Müdigkeit.«
»Ich hätte auch nicht mehr schlafen können.« Er streichelte meinen Arm. »Warum legst du dich nicht einfach ein bisschen hin?«
»Differentialrechnung fängt erst in einer Stunde an, aber … ich will nicht in mein Zimmer.«
Eigentlich hatte ich erwartet, dass er nachfragen würde, doch stattdessen klopfte Balthazar auf sein Bein und bot mir an, als Kopfkissen herzuhalten. Zuerst war ich unsicher, als ich mich auf den Boden legte und meine Wange auf seinen Oberschenkel sinken ließ, aber seine Hand auf meiner Schulter beruhigte mich, und ich war viel zu müde, um lange gegen den Schlaf zu kämpfen. Es war zum ersten Mal seit Stunden, dass ich mich sicher und geborgen fühlte.
In den nächsten Tagen breitete sich das Wort »Pärchen« in der ganzen Schule aus. Balthazar und ich trafen uns nach dem Unterricht und vertrieben uns die Zeit oder lernten in der Bibliothek, ganz so, wie wir es
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