Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
vorher auch getan hatten. Nur dass wir jetzt auch noch Händchen hielten, und offenbar sah das von außen wie eine glühend heiße Affäre aus. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten Leute sich wunderten, was ein älterer, sexy Typ wie Balthazar mit einer rothaarigen Astronomie-Langweilerin zu schaffen hatte, aber sie schienen nicht daran zu zweifeln, dass die Beziehung echt war. Courtney versuchte sogar wieder, mich im Unterricht lächerlich zu machen, was aber viel zu albern war, als dass es mir etwas ausgemacht hätte.
Ich fragte mich, ob auch Raquel etwas von Balthazar und mir gehört hatte, aber ich brachte es nicht über mich, sie einfach danach zu fragen. Wir sprachen zwar noch miteinander, aber seit dieser Nacht, in der ich den Geist gesehen hatte, wollte sie so wenig wie möglich in meiner Nähe sein. Wenn ich im Zimmer war, schob sie einen Grund vor, warum sie es verlassen musste, und wenn ich eine Unterhaltung anfangen wollte, dann erwiderte sie nur »ja« oder »nein« oder »gut«, bis ich es schließlich aufgab. Es war seltsam, aber mir war vorher gar nicht aufgefallen, wie viel Zeit Raquel in unserem Raum verbracht hatte, eigentlich sogar viel zu viel Zeit. Ich wusste, dass es ihr nicht gut ging, und irgendetwas von dem, was ich gesagt hatte, hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht, aber es schien keinen Weg zu geben, zu ihr durchzudringen.
Die Person jedoch, wegen der ich mir die meisten Sorgen gemacht hatte, stellte am Ende überhaupt kein Problem dar. Eines Abends, als ich durch die Große Halle lief, sah ich die übliche Menge an Leuten herumstehen, sich unterhalten, faulenzen und herumhängen. Unter ihnen, an einem Tisch unmittelbar neben der Tür, saßen Ranulf und Vic auf den gegenüberliegenden Seiten eines Schachbrettes. Vic sah so ernst wie selten aus, auch wenn er ein Hawaiihemd anhatte. Er bewegte seinen Springer und setzte ihn energisch auf ein anderes Feld. »Spürst du den Schmerz? O ja, ich denke, du spürst ihn.«
»Dein ungeschicktes Spiel verursacht keinerlei Schmerzen bei mir.« Ranulf strengte sich sehr an, sich auf die Frotzeleien einzulassen. Während er sich über das Brett beugte, um über seinen nächsten Zug nachzudenken, räkelte sich Vic in lässiger Zufriedenheit, und in diesem Moment fiel sein Blick auf mich. Ich zuckte zusammen und wollte verschwinden, aber Vic stand einfach vom Tisch auf und stellte sich neben mich.
»Hey«, sagte er und trat von einem Fuß auf den anderen. »Wie läuft’s denn so?«
»Ganz gut. Ich glaube … Ich glaube, wir müssen uns mal unterhalten.«
Das war noch schwerer, als ich erwartet hatte. »Über Balthazar.«
»Ich will dir vorher nur eins sagen, okay?« Vic legte mir die Hand auf die Schulter. »Du bist auch meine Freundin. Ich will, dass du glücklich bist.«
»Oh, Vic.« Ich war zu gerührt, um irgendetwas sagen zu können, und so schloss ich ihn nur fest in die Arme.
Vics Stimme an meiner Schulter klang erstickt, als er sagte: »Ich mag Balthazar. Er ist in Ordnung.«
»Ja, das ist er.«
»Du hast Lucas doch davon erzählt, oder? Und wenn nicht, dann hast du das doch wohl sehr bald vor? Denn es ist nicht in Ordnung, ihm das zu verheimlichen.«
»Wir werden uns demnächst sprechen.« Mehr Einzelheiten über unser bevorstehendes Treffen in Riverton wollte ich ihm nicht geben, denn das würde Vic nur zu sehr in die Sache hineinziehen. »Ich dachte, es wäre besser, wenn ich direkt mit ihm sprechen würde, anstatt ihm einfach einen Brief oder eine E-Mail oder so zu schicken.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist, die ganze Zeit voneinander getrennt zu sein.«
»Ja, das ist es. Wenn Lucas noch immer hier wäre, wäre alles viel einfacher.«
Vics Lächeln wurde etwas überheblich: »Ja, dann hätte ich noch einen Zimmergenossen, der mich im Schach schlägt, anstatt umgekehrt.«
Ranulf hob den Blick nicht vom Brett. »Ich höre deine Beleidigungen und habe vor, sie mit meinem Sieg zu ersticken.«
»Träum weiter«, rief Vic.
Was Vic nicht wusste, war, dass ich Lucas die volle Wahrheit über das Spiel erzählen würde, das Balthazar und ich spielten. Dann würde alles endlich wirklich in Ordnung sein. Es gab nun nur noch eine Hürde zu überwinden, und zwar die wichtigste von allen: meine Eltern.
10
Zur Konfrontation, auf die ich die ganze Zeit gewartet hatte, kam es am nächsten Tag, als ich aus der Bibliothek hastete und eigentlich schon zu spät dran war. Im Laufschritt durchquerte ich die Halle, als
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