Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
eine Stimme mich wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
»Was haben Sie es denn so eilig, Miss Olivier?« Mrs. Bethanys scharfer Blick, mit dem sie mich musterte, ging mir durch Mark und Bein. Sie trug ein Kleid aus glatter, brauner Wolle, in dem sie so aussah, als wäre sie aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Evernights Mobiliar. »Sie benehmen sich, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Sollte das ein Witz gewesen sein? Ich starrte sie ungläubig an. Glücklicherweise schien sie keine Antwort zu erwarten. »Irgendwann müssen wir uns über das unterhalten, was Sie oben gesehen haben.«
»Ich habe Balthazar doch schon alles erzählt. Wenn er mit Ihnen gesprochen hat, dann wissen Sie ebenso viel wie ich.«
»Haben Sie diese Angelegenheit Ihren Klassenkameraden gegenüber erwähnt? Oder Ihre Eltern eingeweiht?«
»Nein.« Das war eigentlich nicht die ganze Wahrheit, denn schließlich hatte ich mich Raquel anvertraut, auch wenn der Versuch gescheitert war. Doch da Raquel sich geweigert hatte, mich anzuhören, ging ich davon aus, dass ich das Geheimnis gut genug bewahrt hatte.
»Gut. Offensichtlich nicht. Ich bin mir sicher, dass dieser Zwischenfall eine Erscheinung war. Die Leute benehmen sich irrational, wenn sie mit dem Übernatürlichen konfrontiert werden.«
Endlich verstand ich mal, was Mrs. Bethany meinte. Eine einzige Frage bezüglich eines Geistes hatte ausgereicht, um Raquel völlig zum Durchdrehen zu bringen. Das Letzte, was ich brauchen konnte, war, dass meine Eltern plötzlich umschalteten und zu überängstlichen Glucken mutierten. »Ja, Ma’am. Ich werde kein Wort darüber verlieren.«
Ein verschwörerisches Lächeln zeigte sich in Mrs. Bethanys Gesicht. »Da ich Ihre Diskretion in dieser Angelegenheit anerkennen will, werde ich auf eine Bestrafung verzichten, auch wenn Sie die Schulregeln missachtet haben, indem Sie in den Schlafbereich der Gentlemen eingedrungen sind. Trotz Ihres Mangels an Selbstbeherrschung finde ich dies eine herzerwärmende Entwicklung. Wenigstens fallen Ihre romantischen Bemühungen dieses Mal auf einen würdigeren Kandidaten.«
Dies war ein Seitenhieb auf Lucas, aber ich blieb ganz ruhig. »Balthazar ist fantastisch. In der Tat treffe ich mich in einigen Minuten mit ihm, damit wir heute Abend mit meiner Mom und meinem Dad essen können.«
»Dann lassen Sie sich von mir nicht aufhalten. Und grüßen Sie Ihre Eltern von mir.«
Ich nickte und rannte durch die Halle. Auch wenn es vermutlich reine Einbildung war, hätte ich schwören können, dass ich den ganzen Weg über Mrs. Bethanys Augen in meinem Rücken spürte.
Raquel sagte nichts, als ich unser Zimmer betrat. Sie rollte sich einfach auf die andere Seite, sodass sie zur Wand schaute, und las weiter in irgendeinem Magazin, das sie sich gegriffen hatte. Ich selbst unternahm ebenfalls keine Anstrengungen, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Wenn sie sich mir gegenüber derartig aufführen wollte, nur weil ich eine falsche Frage gestellt hatte, dann bitte schön. Ich durchwühlte die Schublade meiner Kommode, in der ich meine Oberteile aufbewahrte. Grün mit Kapuze - nein, das hatte ich letztes Jahr an, als ich mich mit Lucas getroffen hatte, und es nun für Balthazar zu tragen, kommt mir einfach falsch vor. Die ebenfalls grüne Strickjacke - zu dünn, denn es wird so spät im Herbst doch ganz schön windig da oben. Schwarzer V-Ausschnitt - total langweilig, und ich muss wenigstens so tun, als ob ich mich für Balthazar zurechtmache.
»Normalerweise ziehst du dich nicht extra um, wenn du mit deinen Eltern Abendbrot isst«, sagte Raquel. Ihre Stimme wurde von der Wand zurückgeworfen, was mir verriet, dass sie sich noch immer nicht wieder umgedreht hatte.
Ich zögerte und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Das war das erste Mal, seitdem ich das Thema Geist angeschnitten hatte, dass sie versuchte, mit mir ein Gespräch anzufangen. Ich war erleichtert, ärgerte mich deswegen aber über mich selbst, denn schließlich war Raquel diejenige gewesen, die sich wirklich blöd benommen hatte. Warum sollte ich mich wie diejenige fühlen, der nun endlich großmütig verziehen wurde?
»Balthazar begleitet mich.« Ich sah nicht in ihre Richtung, als ich einen Kaschmirpullover in dunklem Lila aus einer Schublade zog.
»Ich habe euch beide vor Kurzem zusammen rumhängen sehen. Und ich habe mich gefragt, ob da was zwischen euch läuft.«
»Da läuft was«, antwortete ich kurz angebunden. Als ich ansonsten freiwillig mit
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