Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
Frauen hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt, Miss Briganti, aber einen Mord an der Ehefrau hat man noch nie auf die leichte Schulter genommen.« Sie klopfte auf ihre Buchseite. »Sie scheinen beide anzunehmen, dass der Mord an Desdemona kalt und wohlüberlegt war. Vor unserer nächsten Stunde, so hoffe ich, werden Sie beide die entsprechenden Stellen im Stück nachgelesen haben, die von Othellos leicht entflammbarem Temperament zeugen. Wir werden uns ebenfalls der Rassenfrage in diesem Stück widmen. Der Unterricht ist beendet.«
Alle sahen sich um, und wir fragten uns, ob wir uns vielleicht verhört hatten. Mrs. Bethany entließ uns früher aus der Stunde? Es waren zwar nur noch fünf Minuten bis zum Pausengong, aber für sie waren das praktisch fünf Stunden. Zögernd begannen die Leute damit, ihre Sachen zusammenzupacken, als erwarteten sie noch halb, dass Mrs. Bethany ihre Meinung änderte. Aber das tat sie nicht.
Ich schloss mein Notizbuch und stopfte es in meinen Rucksack, denn ich konnte es ebenso wenig abwarten zu verschwinden wie alle anderen, doch da ertönte Mrs. Bethanys Stimme: »Miss Olivier, bitte bleiben Sie noch kurz hier.« Sie schloss die Tür, als die letzten Schüler den Raum verlassen hatten. »Ihre Eltern haben mich darüber informiert, dass Sie an diesem Wochenende ein weiteres Mal einen Ausflug mit Mr. More zu unternehmen gedenken.«
»Das stimmt.«
»Ich gestatte diese Unternehmungen in dem festen Glauben, dass Mr. More Ihnen dabei behilflich ist, sich mehr und mehr in unsere Welt einzufinden.« Sie kam zu meinem Tisch, die Hände vor sich gefaltet. Die dicken Rillen in ihren Fingernägeln schienen noch tiefer als gewöhnlich zu sein. »Wenn ich nun Ihren kürzlichen Umgang mit dem Geistwesen betrachte - von dem mir Ihre Eltern berichtet haben -, dann bezweifle ich, dass Ihre Exkursionen den gewünschten Erfolg zeitigen.«
Mom und Dad hatten Mrs. Bethany vom letzten Zusammentreffen mit dem Geist erzählt? Und es klang so, als hätten sie ihr auch gestanden, dass ich mich mit dem Geist unterhalten hatte. Das bedeutete, sie wussten genau, dass ich sie in diesem Punkt angelogen hatte, hatten es mir gegenüber aber nicht erwähnt, nur Mrs. Bethany gegenüber. Ich hätte so etwas erwarten sollen, aber dass sie mein Vertrauen enttäuscht hatten, war trotzdem schmerzhaft. Ich hob mein Kinn. »Ich sehe nicht ein, warum ich, um eine Vampirin zu werden, zwangsläufig versuchen muss, Dinge abzulehnen, obwohl ich nicht weiß, warum.«
Mrs. Bethany legte den Kopf schräg und betrachtete mich mit leuchtenden, vogelähnlichen Augen. »Ein Vampir zu sein, das bedeutet zu akzeptieren, dass man sich an bestimmte Regeln halten muss. Wir sind stärker als Menschen, aber wir sind ebenfalls verletzlich. Wir haben Feinde. Die Regeln, die Sie vor unseren Feinden schützen, sind die wichtigsten, die Sie je lernen werden.«
»Woher wissen Sie denn, dass der Geist mein Feind ist?«
»Und woher wissen Sie, dass das nicht der Fall ist?«
Ich konnte nicht glauben, dass ich Mrs. Bethany davon erzählte, aber schließlich schien sie das meiste ohnehin zu wissen, und vermutlich war sie diejenige, die auch Antworten hatte. »Das Geistermädchen hat versucht, mit mir zu sprechen. Es hat gesagt, es und ich seien uns ähnlich.«
»Wie interessant.«
»Was hat das zu bedeuten? Wissen Sie es?«
»Wenn ich davon spreche, etwas interessant zu finden, Miss Olivier, dann meine ich damit, wie seltsam es mir erscheint, dass ein Mädchen wie Sie nicht weiß, dass viele Gegner einen Angriff mit Freundlichkeit vorbereiten. Was gibt es für eine bessere Art und Weise, jemanden, der unschuldig ist, aus der Reserve zu locken? Nach Ihren Erfahrungen mit Lucas Ross hätte ich geglaubt, dass Sie es besser wüssten.« Ich starrte auf meinen Tisch und versuchte, mein Unbehagen zu verbergen, aber die Belustigung in ihrer Stimme verriet mir, dass es mir nicht gelang. »Ich hätte auch gedacht, dass Ihre Verbindung zu Mr. More Ihnen helfen würde, endlich über Mr. Ross hinwegzukommen. Vielleicht lag ich da ja falsch.«
»Lucas gehört nicht mehr zu meinem Leben.« Die Worte klangen so endgültig. »Balthazar tut mir wirklich gut.«
»Wie wenig Sie das zu schätzen wissen, was Sie haben.« Mrs. Bethany entfernte sich wieder, und ihre Absätze klapperten auf dem Boden. »Sie können gehen.«
»Aber Balthazar und ich dürfen doch an diesem Wochenende trotzdem ausgehen, oder?«
Sie musterte mich mit scharfem Blick. »Ich sehe
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