Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
keinen Grund, meine frühere Entscheidung zu revidieren«, sagte sie. »Im Augenblick jedenfalls nicht.«
Von diesem Moment an wusste ich, dass jeder Ausflug, der mich vom Evernight-Campus fortführte, mein letzter sein konnte.
Amherst wirkte unnatürlich still, was ich auf die Kälte schob, die die College-Studenten in ihren Zimmern hielt, oder darauf, dass es mitten im Schuljahr war.
Als ich das erste Mal ins Stadtzentrum gekommen war, waren die Straßen voller feiernder Jugendlicher gewesen, und die Musik und die Lichter waren mir wie ein Echo meiner eigenen Hochstimmung erschienen, die mich bei dem Wissen erfasst hatte, dass Lucas ganz in der Nähe war. Nun waren die Straßen wie ausgestorben und dunkel, und ein Gefühl der Unsicherheit bedrückte mich.
»Charity … hat sich dir hier einfach so angeschlossen?« Balthazar lief neben mir, und sein langer Mantel bauschte sich sanft im Wind. »Sie hat dich aus der riesigen Menschenmenge herausgepickt?«
»Natürlich wusste sie, dass ich eine Vampirin bin.«
»Was sich bei dir noch gar nicht so leicht bemerken lässt.«
Ich warf ihm einen Blick zu. Das Licht der Straßenlaternen umrahmte Balthazars Silhouette, sodass sein Gesichtsausdruck schwer zu deuten war. »Bedeutet das, dass ich, na ja, vampirhafter werde?«
»Es könnte auch nur bedeuten, dass Charitys Wahrnehmungsfähigkeit sich verbessert hat. Dass ihre Sinne jetzt schärfer sind.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Das passiert manchmal, wenn wir mehr menschliches Blut als sonst zu uns nehmen.«
»Du denkst, sie könnte … sie ist ….«
»Es ist auch möglich zu trinken, ohne vorher getötet zu haben. Das müsstest du doch nur allzu gut wissen.«
Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Dann blieb Balthazar plötzlich stehen und drehte sich um. Als ich es ihm nachtat, bemerkte ich, dass uns jemand gefolgt war.
»Lucas?« Ich machte einige Schritte auf ihn zu. Dort stand er mit den Händen in den Hosentaschen, und er trug einen alten Leinenmantel, der viel zu dünn für diese Witterung war. Seine Augen sahen abwesend und irgendwie traurig aus; genauso hatte er mich in jenen frühen Tagen in Evernight angesehen, ehe er sich entschlossen hatte, das Wagnis einer Beziehung zwischen uns beiden einzugehen. Ich hatte ganz vergessen, dass er anfänglich versucht hatte, gegen unsere Zuneigung anzukämpfen. »Wie lange läufst du uns denn schon hinterher?«
»Lange genug, um unseren Balthazar daran zu erinnern, was ich so alles kann.« Lucas lächelte, doch das Strahlen erreichte seine Augen nicht.
Balthazar verzog keine Miene. »Wir sollten uns aufteilen. Wenn Charity uns auch dieses Mal zusammen sieht, werde ich nie eine zweite Chance bekommen, mit ihr zu sprechen.«
Lucas hätte gerne dagegen protestiert, das konnte ich sehen. Rasch sagte ich: »Dann trennen wir uns. Balthazar kann die Nachbarschaft absuchen, in der du sie gesehen hast, ich kümmere mich um den Marktplatz, und du übernimmst die Hauptstraßen, die in die Stadt hineinführen.«
»Dann bin ich also heute Abend allein unterwegs, ja?« Lucas zuckte mit den Schultern. »Na klar. Warum denn auch nicht? Klingt nach einem Plan.«
Er drehte sich ohne ein weitere Wort um und ließ uns stehen. Wir hatten uns kein einziges Mal berührt.
»Er ist sauer«, sagte Balthazar leise. »Vielleicht solltest du ihm nachgehen.«
Das wollte ich auch. Irgendetwas in mir zog mich zu Lucas, aber ich wehrte mich dagegen. »Wir haben einen Plan, und an den werden wir uns halten. Wenn wir in den kommenden Stunden keine Spur von Charitys Clan finden, können wir ja vielleicht in eine der anderen kleinen Städte hier in der Nähe fahren.«
Balthazar stellte seinen Mantelkragen auf. »Danke. Ich weiß das zu schätzen.« Innerhalb von Sekunden war auch er verschwunden.
Nun war ich allein. Ich erwartete nicht ernstlich, dass sich Charity noch einmal zu mir gesellen würde; nicht, solange ihr Bruder und ihr Feind ebenfalls hier herumliefen. Während ich in den Straßen auf und ab lief, vor Kälte zitterte und hin und wieder einen sehnsüchtigen Blick in eines der Cafés ringsum warf, hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, was los war.
Lucas war wütend auf mich. Vielleicht ging es dabei um Balthazar? Es gab keinen Grund für ihn, eifersüchtig zu sein. Doch noch während ich das dachte, fiel mir wieder ein, wie nahe nebeneinander wir gelaufen waren, als Lucas nach uns rief. Meine Wangen wurden rot, und rasch schob ich die Erinnerung beiseite. Nein, das
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