Evernight Bd. 2 Tochter der Dämmerung
konnte nicht der Grund sein, entschied ich. Lucas war in letzter Zeit sogar noch aufbrausender als gewöhnlich. Wer wusste also, warum er sich dazu entschlossen hatte, sauer zu sein? Es konnte alle möglichen Gründe haben. Vielleicht hatte ich es auch einfach satt, dass er seine Launen an mir ausließ.
Gerade, als ich mich selbst in eine Wut hineinzusteigern begann, wurde meine Aufmerksamkeit von einem goldenen Haarschopf etwas weiter unten auf der Straße angezogen. Lange, dunkelblonde Haare … Und da war auch etwas Vertrautes in den Bewegungen …
Charity?
Aber sie war es nicht. Es war Courtney.
Courtney lief auf dem Gehweg auf der anderen Seite des Marktplatzes, und sie war auf dem Weg in die hübsche Wohngegend, die ich schon bei unserem letzten Besuch hier gesehen hatte. Die Kleidung, die sie trug, war für ihre Verhältnisse seltsam: alte Jeans, ein unförmiger Pullover und ein grauer Trenchcoat. Das erinnerte mich an meine eigene alberne Verkleidung beim amateurhaften Einbruchsversuch, ehe das Schuljahr anfing.
Und mit einem Mal dämmerte mir, dass Courtney das Gleiche tat, was ich vorgehabt hatte: Sie schlich herum. Sie hatte sich so eifrig auf Balthazars angebliches Fremdgehen gestürzt. War sie uns hierher gefolgt? Ahnte sie die Wahrheit? Wir konnten es uns nicht leisten, erwischt zu werden, vor allem nicht, wenn Lucas in der Nähe war. Wenn Courtney ihn sähe, wäre alles vorbei.
Rasch lief ich ihr hinterher, als sie die Innenstadt verließ. Nicht ein einziges Mal warf sie einen Blick zurück, sodass ich mir bald schon nicht mehr die Mühe machte, mich zu verstecken. Offenbar hatte sie mich nicht gesehen, aber vielleicht verfolgte sie ja Balthazar? Das war die Gegend, die er absuchen würde. Ich hielt nach ihm Ausschau, während wir an alten Holzhäusern vorbeiliefen. In allen Vorgärten waren Dinge zu entdecken, die verrieten, was für ein Leben im Innern geführt wurde: ein Kinderfahrrad, das zur Seite gekippt war, eine Hollywoodschaukel oder eine weiße Vogeltränke auf einem kleinen Sims. Courtney schien nichts davon zu beachten und wirkte auch nicht so, als suchte sie nach Balthazar oder nach sonst irgendjemandem. Offenbar wusste sie ganz genau, wohin sie unterwegs war.
Ihre Schritte wurden langsamer, als sie sich einem hellblauen Haus näherte, bei dem alle Fenster hell erleuchtet waren. Schon als wir nur noch einen halben Häuserblock entfernt waren, konnte ich Musik und Stimmengewirr im Innern hören, und als ich näher trat, sah ich, dass sich Menschen im Haus drängten, die Teller mit Essen und Bierflaschen in den Händen hielten. Einige Ballons waren zur Zimmerdecke aufgestiegen.
Courtney kauerte sich in ein Gebüsch neben einem der großen Fenster und beobachtete die Szene im Innern. Ich konnte nicht nah genug herankommen, um zu sehen, ob sie noch etwas anderes tat, als nur hineinzuschauen.
Macht sie etwa Jagd auf jemanden ? Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich immer gedacht hatte, dass nicht mal jemand, der so boshaft wie Courtney war, ein menschliches Wesen töten würde. Aber inzwischen war ich mir doch nicht mehr so sicher, was Vampire anging. Meine Haut kribbelte vor aufsteigenden Befürchtungen.
Ich schlich näher. Im Haus hatten die Leute begonnen, für eine gewisse Nicole ein Geburtstagslied anzustimmen. Courtney rührte sich nicht: Sie blieb vollkommen reglos sitzen, und ihr nach oben gerichtetes Gesicht wurde vom Licht, das durchs Fenster herausfiel, golden getönt. Ich war nur zwei oder drei Meter hinter ihr.
Zuerst achtete ich überhaupt nicht auf das kleine Zimmer, das mir am nächsten lag; es hatte sich geleert, als die Leute zu singen begonnen hatten. Aber dann sprang mir aus dem Inneren des Hauses ein vertrautes Lächeln entgegen.
Courtneys Lächeln.
Ich drückte mein Gesicht ans Glas und sah, dass es tatsächlich ein Foto von Courtney war, das zwischen anderen auf einem Klavier stand. Das Foto zeigte sie in einer rotbraun-weißen Cheerleader-Uniform. Ihr Haar trug Courtney an einer Seite des Kopfes zu einem lockigen Zopf zusammengebunden, und ihr ganzer Stil und ihr Make-up wirkten wie aus den 1980ern - also aus einer Zeit, in der Courtney noch am Leben gewesen war.
Das ist ihre Familie. Das ist ihr Zuhause.
Das Lied war zu Ende, und alle johlten und klatschten. Ich wandte den Blick zurück zu Courtney, die ihre Hände ebenfalls aneinandergelegt hatte, als würde sie klatschen, nur dass kein Geräusch zu hören war. Ihre Augen glänzten feucht im weichen
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