Evernight Bd. 3 Hüterin des Zwielichts
klar, dass ich etwas vorschlagen wollte, das gegen die Regeln verstieß. Sicher war es besser, Lucas nicht dazu zu bringen, sein Versprechen zu brechen. Ich selbst würde die Verantwortung übernehmen. Zum Glück hatte ich noch ein bisschen Kleingeld übrig, zwar nicht viel, aber genug für das, was ich vorhatte.
Beiläufig sagte ich: »Ich habe Hunger.«
»Oh. Okay.« Lucas wirkte verunsichert. »Na ja, ich schätze, hier gibt es genügend Eichhörnchen und so.«
»Ja.« Ich brauchte wirklich mehr Blut, als ich in letzter Zeit zu mir genommen hatte, und schon beim bloßen Gedanken daran lief mir das Wasser im Mund zusammen. Aber das war es nicht, was ich wirklich im Sinn hatte. »Ich werde mir einfach irgendetwas suchen, denke ich. Wenn es in Ordnung für dich ist, mich einen Augenblick …«
»Wir sind bis ungefähr zwei Uhr heute Nacht für die Streife eingeteilt«, unterbrach mich Lucas. »Und wir können kurze Pausen einlegen, wenn es nötig ist.«
»Bin gleich wieder da.«
Auf Zehenspitzen küsste ich ihn auf die Wange, dann hastete ich davon. Sobald ich mir sicher war, dass ich außer Sichtweite war, verließ ich den Park und bog in die Stadt ein. Der Lärm des Verkehrs – Hupen und Sirenen – war zunächst beinahe überwältigend, aber ich hatte ja etwas Dringendes vor. Ich dachte zunächst, ich würde nicht finden, wonach ich suchte, doch New York war eine Stadt, die groß genug war, jedes Bedürfnis zu befriedigen. Und tatsächlich: Nur einige Häuserblöcke weiter sah ich das Schild, nach dem ich Ausschau gehalten hatte: Internet Café.
Ich betrat das Café, setzte mich an einen Rechner und meldete meinen E-Mail-Account an. Dutzende von neuen Nachrichten mit fett gedruckter Betreffzeile ganz oben auf dem Bildschirm erschreckten mich, und die Namen der Absender versetzten mir einen Stich, und zwar einer nach dem anderen: Dad. Mom. Vic. Balthazar. Ranulf, der offenbar genug über das moderne Leben herausgefunden hatte, um sich eine Internetadresse zuzulegen. Selbst Patrice, meine Zimmergenossin aus dem ersten Jahr, von der ich immer geglaubt hatte, dass sie nur um sich selbst kreiste, hatte geschrieben, um sich nach meinem Verbleib zu erkundigen.
Wenn ich erst mal beginnen würde, diese E-Mails zu lesen, würde ich anfangen zu weinen, das wusste ich. Stattdessen öffnete ich eine eigene Nachricht und gab als Empfänger die Adresse meiner Eltern in der Evernight-Akademie an, denn das war die einzige, über die sie verfügten.
»Mom und Dad,
es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich zu euch Kontakt aufnehmen kann. Dies ist wirklich die erste Gelegenheit für mich, euch zu sagen, dass es mir gut geht. Ich weiß, es hat euch einen Schrecken eingejagt, dass ich einfach so verschwunden bin, und ich wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben.«
Hatte es einen anderen Weg gegeben? Hätte ich eine andere Wahl treffen können? Ich wusste es nicht mehr.
»Ich bin bei Lucas. Die Leute vom Schwarzen Kreuz kennen die Wahrheit über mich nicht, also bin ich erst mal in Sicherheit. Bald werden wir weggehen und unser eigenes Leben führen. Er liebt mich und wird für mich sorgen, egal, was auch geschehen wird.
Ich weiß, dass zwischen uns nicht alles zum Besten stand, ehe wir davongelaufen sind. Was auch immer daran meine Schuld war, tut mir leid. Und wenn wir uns irgendwann unterhalten könnten, so richtig unterhalten, ohne noch mehr Lügen und Geheimnisse, dann wäre ich froh und glücklich. Ich vermisse euch mehr, als ich es je für möglich gehalten hätte.«
Nun war ich trotzdem den Tränen nahe. Ich blinzelte schnell und schloss mit den Worten:
»Bitte lasst Balthazar und Patrice wissen, dass es mir gut geht. Ich werde bald wieder schreiben.
Ich liebe euch beide.«
Das war nicht alles, was es zu sagen gab, bei Weitem nicht, aber ich wusste, dass mir nicht mehr Zeit blieb.
Ich blinzelte wieder und drückte auf Senden .
Nachdem ich mich ausgeloggt hatte und gegangen war, wollte ich schnurstracks in Lucas’ Arme rennen. Doch stattdessen beschloss ich, erst einige Tauben zu fangen. In der Dunkelheit des Parks würde mich niemand sehen.
Außerdem , dachte ich, hast du doch einen Vorteil. Du bist der einzige Vampir, der weiß, wo sich die Jäger befinden.
Das war allerdings nicht übermäßig tröstlich.
Aber die Nacht verlief ohne irgendwelche Vorfälle. Andere Jäger kamen, um nach Lucas und mir zu sehen, sodass uns nur wenig Zeit allein blieb,
Weitere Kostenlose Bücher