Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
schallendes Gelächter aus. »Verrückt. Ihr seid verrückt geworden.«
Sie antwortete: »Verwandelt mich, und Ihr werdet sehen.«
Der Vampir machte einen Satz auf sie zu und riss sie mit sich zu Boden. Mrs. Bethany leistete keinerlei Widerstand und schrie nicht, nicht einmal dann, als ihr heißes Blut dampfend auf den weiß verschneiten Boden spritzte.
»Rache«, sagte Christopher, »ist eine mächtige Triebfeder.«
Der nächste Ort, den er mir zeigte, war offensichtlich in wärmeren Gefilden zu finden. Ein Palmwedel strich über das Fester, und ich sah Vasen, die mit üppigen Sträußen tropischer Blumen gefüllt waren. Wir schienen uns in einer Inselvilla zu befinden, die einst wunderschön gewesen sein musste, ehe sie verwüstet worden war. Die Möbel standen auf dem Kopf, Spiegel waren zerbrochen. Zwei Leichname lagen auf dem Boden, und Mrs. Bethany stand in einer Ecke, von wo aus sie das vor ihr liegende Chaos voller Befriedigung betrachtete. Mit dem Handrücken wischte sie sich über den Mund.
»Sie hat die Männer gefunden«, sagte ich. Obwohl die Mordszene so entsetzlich war, hatte ich unwillkürlich das Gefühl, die Verräter hatten bekommen, was sie verdienten.
Christopher nickte. »Aber was war der Preis dafür? Ihr eigenes Leben und, was vielleicht noch wichtiger war, ihre Mission, ihre Seele.«
»Wo warst du während dieser ganzen Zeit?«, fragte ich. »Warum bist du ihr nicht erschienen? Wenn sie gewusst hätte, dass du ein Geist bist und dass sie vielleicht mit dir hätte sprechen können …«
»Ich konnte mich ihr nicht zeigen.«
Die Szene in der Karibik und Mrs. Bethany verblassten, und wir waren wieder zurück im Land der verlorenen Dinge . Waren wir wieder am gleichen Ort? Unsere Umgebung hatte sich verändert. Wir befanden uns nicht mehr in der Stadt. Vor uns öffnete sich eine Wüste, die zu karg war, um schön zu sein. Die Sonne brannte heiß auf uns herunter, und ich sah einen Skorpion, der über den Boden kroch. Christopher saß auf einem niedrigen, flachen Felsen; sein schönes Profil hob sich vom dunklen Gestein ab, und zum ersten Mal erkannte ich in ihm den jungen Mann, dessen Bild auf Mrs. Bethanys Schreibtisch stand. »Wie du weißt, kostet es Zeit zu lernen, wie man seine Geisterfähigkeiten einsetzen kann. Und die meisten brauchen viel länger dafür als du. Als es mir endlich möglich gewesen wäre, meiner Frau zu erscheinen, hatte sie längst begonnen, die Geister als die natürlichen Feinde der Vampire zu verabscheuen. Durch ihre Taten zeigte sie mir, dass ihr Hass auf die Geister stärker war als ihre Liebe zu mir.« Ich wollte ihm widersprechen, aber dann dachte ich daran, was für eine bedrückende Vorstellung es für mich gewesen war, meinen Eltern zu erscheinen. Diese Angst, zurückgewiesen zu werden, war mächtig. Und wie Lucas’ Erfahrungen zeigten, war nicht jeder stark genug, trotz der Veränderungen an seiner Liebe festzuhalten.
Lucas , dachte ich. Natürlich hatte sich Mrs. Bethany gut in Lucas einfühlen können. Sie war an genau dem gleichen Punkt gewesen wie er. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie großherzig und gut war. Es machte sie lediglich zu einer Frau, die das Schwarze Kreuz aus tiefstem Herzen hasste. Das würde Lucas begreifen müssen, je eher, desto besser.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. »Ich werde später wiederkommen, ja?«
Ich hatte erwartet, dass Christopher Einwände erheben oder einen Eissturm heraufbeschwören würde, um mich dort zu halten, aber stattdessen beobachtete er den Skorpion, der sich seinen Weg durch den Sand bahnte. »Geh«, sagte er. »Ich bin müde.«
Mrs. Bethanys Tod mit ansehen zu müssen – auch wenn es nur eine lang zurückreichende Erinnerung war –, war ebenso hart für ihn, wie es für mich gewesen wäre, wenn ich Lucas beim Sterben gesehen hätte. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vielen Dank dafür, dass du mir das gezeigt hast.«
»Geh«, wiederholte er mit leiser Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Ich konzentrierte mich in Gedanken auf den Aktenraum und reiste durch das Blau, bis sich die Evernight-Akademie rings um mich herum materialisierte. Patrice war alleine oben im Turmzimmer und lernte gerade Deutsch. Sie fuhr zusammen, als ich auftauchte, fing sich aber gleich wieder. »Hey, da bist du ja. Lucas hat schon angefangen, sich Sorgen zu machen.«
»Ich werde gleich zu ihm gehen«, versprach ich, ging zum lockeren Stein in der Wand und holte mein Armband heraus.
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