Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
offenbar hatte sie mit ihren Worten etwas in Lucas angestoßen. »Wir müssen uns unterhalten.«
»Unsere Prüfung fängt in fünf Minuten an … Und musst du dich nach dieser Rangelei nicht noch etwas frisch machen?«
»Vergiss das Frischmachen. Vergiss die Prüfung. Es ist wichtig.«
Ich folgte ihnen hinaus zur Treppe. Patrice schickte uns einen besorgten Blick hinterher, versuchte aber nicht, sich Lucas und Skye anzuschließen. Was auch ganz gut war, denn vermutlich hätte sie ohnehin einen Anfall bekommen. Da ich Lucas kannte, wusste ich, was er sagen würde, und ich hielt das für eine gute Idee.
Es wurde Zeit, dass Skye die Wahrheit erfuhr.
»Was ist denn los?« Skyes Gesichtsausdruck wurde ernst, als sie zusammen auf der Treppe standen und das Licht, das durch ein schmales Bogenfenster in der Nähe hereinfiel, ihre dunklen Haare glänzen ließ. »Erzählst du mir jetzt endlich, was mit dir nicht stimmt?«
Lucas wurde sofort vorsichtig. »Was meinst du?«
»Du bist so … zornig«, flüsterte sie. »Wegen allem, und zwar immerzu. Ich sage ja nicht, dass es ein Fehler ist, zornig zu sein, aber Lucas … irgendetwas verbrennt dich von innen heraus. Was ist es? Kannst du es mir erzählen?«
Wenn sie versucht hätte, ihm irgendetwas zu entlocken oder ihn auszuhorchen, hätte Lucas niemals den Mund aufgemacht. Aber mit schlichter Ehrlichkeit drang man immer zu ihm durch. »Meine Freundin, Bianca … Sie ist letzten Sommer gestorben. Ich liebe sie noch immer. Und daran wird sich auch nie etwas ändern.«
Das war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Trotzdem hatte sie die Kraft, mich immer wieder zu wärmen und mich mit Freude zu erfüllen. Was mich allerdings überraschte, war die Wirkung, die Lucas’ Worte auf Skye hatten. Ihre hellblauen Augen füllten sich sofort mit Tränen. »Ich habe diesen Sommer ebenfalls jemanden verloren. Meinen älteren Bruder.«
»O Himmel.« Damit hatte Lucas ganz offenkundig nicht gerechnet. »Skye. Das tut mir leid.«
Sie drückte seine Hand. »Glaub mir, ich verstehe dich. Vielleicht kann ich meine Wut besser verbergen als du, aber manchmal will ich einfach nur …«
Skye stieß die Luft durch die Zähne aus, schaffte es aber, Lucas anzulächeln, während sie sich eine Träne fortwischte. »War Bianca … toll? Ich wette, sie war toll.«
Lucas’ Miene verdunkelte sich. Zu hören, wie jemand in der Vergangenheitsform von mir sprach, erinnerte ihn an meinen Tod und brachte den Schmerz zurück. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie toll sie war.«
»Wenn es dir irgendwie hilft: Ich glaube – nein, ich weiß, dass die Toten nicht wirklich fort sind.« Sie sprach im Brustton der Überzeugung, die nur daher rühren konnte, dass sie in einem Spukhaus aufgewachsen war. Skye wusste über Untote Bescheid, jedenfalls in gewisser Weise. »Sie beobachten uns. Sie sind ganz in unserer Nähe. Und ich glaube, sie wissen, wie sehr wir sie geliebt haben. Vielleicht wissen sie es besser als zu ihren Lebzeiten.«
Nach Skyes letzten Worten wagte ich das Risiko, leicht über Lucas’ Hand zu streichen. Ich sah, wie er sich aufrichtete. Meine Anwesenheit und das Wissen, dass es mir gut ging, trösteten ihn und ließen ihn noch sentimentaler werden. »Ich glaube das auch.«
»Bianca will, dass du glücklich bist, und nicht, dass du immer diesen Zorn mit dir herumträgst.«
»Das versuche ich ja.« Ich wusste, dass Lucas nun ebenso mit mir wie mit Skye sprach.
Sie sahen einander eine Sekunde lang in die Augen und versuchten, sich wieder zusammenzureißen. Nachdem Skye krampfhaft geschluckt hatte, gewann sie ihre Fassung wieder und fragte: »Also, was wolltest du mir denn sagen?«
»Diese Schule ist gefährlich, Skye. Überall lauert Gefahr. Du musst auf dich aufpassen.«
»Ja, das habe ich mir auch schon gedacht, nachdem diese seltsamen, alten Gangmitglieder einen Pfeil auf mich abgeschossen haben. Was für eine Bande benutzt denn, bitte schön, Armbrüste?«
Lucas machte einen Schritt auf sie zu und blickte ihr fest in die Augen. Durch das Bogenfenster strömte die nachmittägliche Sonne herein und verwandelte ihre Haare in pures Gold. »Ich meine das ganz ernst. Einige der Schüler hier … sind nicht nur Schüler.«
Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Du meinst, sie sind auch noch Vollidioten?«
»Ich meine, sie sind Vampire.«
Skye starrte Lucas an. Lucas hielt ihrem Blick stand. Ich wartete gespannt, ob sie zu schreien anfangen würde, Fragen stellen oder einfach
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