Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
nicht dafür entscheiden.
Dann dachte ich weiter darüber nach. Ein kleines, ängstliches Gefühl stieg in mir auf, aber ich ließ nicht zu, davon überwältigt zu werden. Ich hielt Lucas fest, während er sein Gesicht an meiner Schulter verbarg. Sein ganzer Körper zitterte vor Anspannung. Bis ich mir nicht ganz sicher war, konnte ich nicht sprechen.
Irgendwann aber begann ich. »Wir könnten es tun.«
Lucas fuhr zurück, weit genug, um mir ins Gesicht zu sehen. »Wir können was tun?«
»Das Ritual durchführen. Tun, was Mrs. Bethany eben getan hat.« Ich nahm all meine Kraft zusammen. »Ich könnte dir dein Leben wiedergeben.«
»Nein. Du würdest dein Leben oder deine Existenz, die dir noch geblieben ist, aufgeben, und dann wärst du für immer fort.«
»Du wolltest das Gleiche für mich tun«, sagte ich. »Erinnerst du dich?«
»Und du warst mutig genug, für mich zu sterben.« Lucas strich mit seinen Daumen über meine Wangen und wiegte mein Gesicht in seinen Händen. »Ich werde dir nicht weniger als das geben.«
Wieder umarmte ich ihn, und er ließ sich gegen mich sinken, als wäre er erschöpft. Mrs. Bethany würde nie wieder Macht über ihn haben, das wusste ich, und doch war seine Bürde so schwer wie immer.
Keiner von uns beiden würde jemals sterben oder jemals das Leben zurückgewinnen.
18
Später in dieser Nacht, oben im Aktenraum, erzählten wir den anderen, was wir gesehen hatten. Auf diese Weise waren Lucas und ich zwar in einer Art Schockzustand, aber immerhin nicht allein. Fast eine Stunde lang saßen wir schweigend mit unseren Freunden zusammen. Das, was Mrs. Bethany gerade getan hatte – einen Vampir ins Leben zurückzuholen –, widersprach jedem uns bekannten physikalischen und auch übernatürlichen Gesetz. Und doch ließ sich nicht leugnen, was wir soeben mit eigenen Augen gesehen hatten.
Balthazar wiederholte ungefähr zum achten Mal: »Das kommt mir alles so … unwirklich vor. Es gibt also einen Weg, wieder lebendig zu werden?«
»Klingt nicht sehr verlockend für mich«, schnaubte Patrice, als hätte sie nicht die ersten zehn Minuten nach unserer Enthüllung damit zugebracht, immer wieder »O mein Gott, o mein Gott« zu schreien. »Ich habe es auf die harte Tour herausgefunden: Wenn jemand tot ist, und zwar egal auf welche Weise, dann ist es am besten, die Dinge auf sich beruhen zu lassen.« Mit einem Mal schien sie sich sehr für die Ringe an ihren Fingern zu interessieren, aber ich wusste es besser. Sie dachte an Amos, ihre vor langer Zeit verlorene Liebe, den sie als Geist zurückgeholt hatte. Auch wenn Patrice viel zu sehr auf ihre Privatsphäre bedacht war, um Einzelheiten zu erzählen, war es doch offensichtlich, dass die Ergebnisse tragisch gewesen waren.
Vic nickte. »Von den Toten aufzuerstehen ist auf jeden Fall eine heikle Sache. Was denkst du, Ranulf?«
Ranulf, der von den Vampiren im Raum angesichts dieser Neuigkeiten mit großem Abstand am ruhigsten geblieben war, schüttelte den Kopf. »Ich war siebzehn Jahre lang am Leben«, sagte er. »Und ich bin seit ungefähr tausenddreihundert Jahren ein Vampir. Das ist inzwischen viel mehr meine wahre Natur.«
»Ich würde es tun«, sagte Balthazar, und er warf mir einen um Verzeihung bittenden Blick zu. »Natürlich nur, wenn das nicht bedeuten würde, ein fühlendes Wesen zu töten. Wenn es irgendeine – ich meine tatsächlich irgendeine – andere Möglichkeit gäbe, würde ich keine Sekunde lang zögern.«
»Wir wissen jetzt also, was sie vorhat«, fasste Lucas zusammen. Er sah abwesend aus, und ich ahnte, dass er dabei war, einen Plan zu schmieden, um sich von seinem Schmerz abzulenken. »Und wir wissen, dass wir sie aufhalten wollen. Also müssen wir die Fallen finden. Wir müssen diesen Ort hier von Fallen befreien, damit es für Bianca sicher ist, ganz zu schweigen von den anderen Geistern, die Mrs. Bethany noch nicht eingefangen hat.«
»Klingt sinnvoll«, sagte Balthazar. Er hatte auf dem einzigen richtigen Stuhl Platz genommen, während Vic und Patrice es sich auf den Knautschsesseln bequem gemacht hatten. Ranulf und Lucas saßen beide auf alten Kisten, und ich schwebte auf halbem Weg zur Decke. »Wie wäre es, wenn wir das Schulgelände einfach in Abschnitte einteilen und absuchen würden, wann immer wir Zeit dazu finden?«
Lucas schüttelte den Kopf. »Ich will eine gezielte, große Durchsuchungsaktion starten. Wahrscheinlich legt Mrs. Bethany ständig neue Fallen aus, aber wenn wir die Schule
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