Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
kommt.« Dad drückte meine Hände. »Ich habe es ihr erst vor wenigen Stunden erzählt.«
»Und hat sie es gut verkraftet?« Trotz der Versicherungen meines Vaters konnte ich nicht aufhören, mir Sorgen zu machen, dass meine Mutter es nicht schaffen würde, mich als Geist zu akzeptieren.
»Ja.« Seine Stimme hatte einen merkwürdigen Unterton. Er klang unsicher. Angst breitete sich in mir aus. Dad musste das gespürt haben, denn er schüttelte rasch den Kopf. »Deine Mutter liebt dich. Sie … Sie kann es nur nicht akzeptieren, dass dir etwas so Schreckliches zugestoßen ist. Das macht ihr schwer zu schaffen. Aber es bedeutet ihr unglaublich viel, dass sie wieder mit dir zusammen sein kann.«
Etwas so Schreckliches . Diese Worte hallten in mir wider, und zwar auf keine schöne Weise. Ich wollte herausfinden, woran das lag, aber dafür war keine Zeit mehr, denn ich konnte die Schritte meiner Mutter bereits auf dem dichten Nadelteppich des Waldbodens hören.
Neugierig spähte ich an meinem Vater vorbei und versuchte, Mom zu entdecken. Als Geist war meine Nachtsicht nicht länger so geschärft, wie sie es während meines Vampirlebens gewesen war. Und so hörte ich, wie meine Mutter scharf die Luft einsog, noch ehe ich sie sehen konnte.
»Mom?« Ich löste mich von meinem Dad und ging vorsichtig näher an den Rand der Lichtung. Dann sah ich sie. Sie stand wie erstarrt da, zitterte leicht und hatte ihre Hände tief in den Taschen ihres langen Mantels vergraben. »Mom, ich bin es.«
»O mein Gott.« Ihre Stimme war so leise, kaum hörbar. »O mein Gott.«
Sie schien sich nicht bewegen zu können, deshalb ging ich auf sie zu. Ich rannte nicht, wie ich auf meinen Vater zugestürmt war, sondern ging langsam Schritt für Schritt und ließ ihr Zeit, sich an meinen Anblick zu gewöhnen. Moms Gesicht war wie versteinert; sie blinzelte, während sie mir entgegensah, und ich musste unwillkürlich an einen Hasen denken, der zu verängstigt war, um vor seinem Jäger zu fliehen. Aber als ich sie endlich erreicht hatte, holte sie ruckartig Luft und hauchte: »Bianca.«
Und dann schlang sie ihre Arme um mich, und mein Dad wiederum umarmte uns beide. Eine kurze Zeit lang gab es nichts als Wärme und Tränen, und wir sagten uns unablässig, wie sehr wir einander liebten. Wir stammelten unzusammenhängende Worte, aber das war mir egal. Es zählte nichts mehr als die Tatsache, dass meine Familie endlich wieder vereint war.
»Mein Baby«, sagte meine Mutter, als wir uns endlich losließen. »Mein armes Baby. Bist du … hier gefangen?«
»Nein, ich bin nicht gefangen, obwohl Mrs. Bethany das gerne anders sähe.« Ich beschloss allerdings, dass ich das Thema später noch weiter ausführen konnte. »Dies ist einer der Orte, an die ich reisen und wo ich bleiben kann. Ich bin schon eine ganze Weile hier, weil Lucas auch nach Evernight zurückgekehrt ist.« Die Augen meiner Mutter wurden schmal, aber ich fuhr fort: »Und Balthazar, Patrice, Vic, Ranulf. Und ihr beide, einfach alle.«
Meine Mom ließ den Blick zwischen mir und meinem Vater hin- und herwandern. »Du bist schon seit ein paar Monaten hier … Und du kannst mit deinen Freunden Zeit verbringen? So als wäre das alles ganz normal?«
»Es ist normal«, sagte ich. »Jedenfalls für mich.«
»Wir … Wir können dir dein altes Zimmer wieder herrichten.« Mom lächelte zaghaft. »Du könntest hier bei uns wohnen, wenn du das gerne möchtest.«
Der Gedanke daran, in meinem alten Zimmer zu sein und zuzuschauen, wie der Schnee auf den Kopf des Gargoyle fiel, war die verlockendste Erinnerung an die Vergangenheit, die mir einfiel. »Ich kann dort hinreisen. Wenn ihr dafür sorgt, dass es da sicher für mich ist, dann werde ich die ganze Zeit bei euch sein.«
Moms Gesichtsausdruck wurde finster. »Sicher? Du meinst … wir sollen die Fallen aufgeben?«
»Deine Mutter hat Angst«, unterbrach uns Dad. »Sie ist verstört durch das, was wir bislang gesehen haben.«
»Die meisten Geister sind überhaupt nicht so wie die, die hier in Evernight in die Falle gelockt werden.« Ich wusste, dass es Einschränkungen gab. »Einige von ihnen schon, die sind gruselig. Aber das ist doch bei den Vampiren auch nicht anders. Der Großteil der Geister unterscheidet sich nicht von mir. Sie sind einfach ganz normale Leute. Man hört doch nicht auf, man selber zu sein, nur weil man tot ist.«
Meine Mutter war ganz offensichtlich nicht überzeugt. »Aber warum greifen denn so viele diese Schule
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