Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
bewegte? Denn ich wusste vom ersten Augenblick an: Was auch immer da gerade aufstand, war nicht Vic. Mir dämmerte, dass ich offensichtlich nicht die Einzige war, die die Macht hatte, von anderen Besitz zu ergreifen.
Auch die übrigen Menschen setzten sich in Bewegung, doch ihre Augen waren verhangen. Sie hatten eine milchig grüne Farbe, ohne Pupillen oder Iris. Aber keiner von ihnen war blind. Ihre Bewegungen waren langsam und unbeholfen, als hätten sie ihre Glieder seit sehr langer Zeit nicht mehr benutzt. Lucas wich zurück, als Skye – oder jemand, der wie Skye aussah – ihn vom Boden aus bösartig anstarrte.
Vic straffte die Schultern und richtete sich zu voller Größe auf. Wenn ich nicht schon gespürt hätte, dass Maxie nicht unter den Angreifern war, so hätte ich trotzdem gewusst, dass sie nicht diejenige war, die in ihn gefahren war. Seine Miene verriet es mir. Sie passte so gar nicht zu ihm und war so ungewohnt fremd auf seinem Gesicht, dass es eine Weile dauerte, bis ich sie richtig deuten konnte. Was ich da sah, war … Grausamkeit.
Er schrie: »Mrs. Bethany.«
Das war nicht Vics Stimme. Es war ein heiseres Krächzen, das mich sofort an jemanden denken ließ, dem die Kehle durchgeschnitten worden war. Ich wünschte mir voller Verzweiflung, dass ich einen Spiegel hätte, um Vic zu befreien. Doch würde die Falle überhaupt bei einem Geist wirken, der gerade von einem Menschen Besitz ergriffen hatte? Angesichts der Tatsache, wie gut geschützt ich mich in Kates Körper gefühlt hatte, war das wenig wahrscheinlich.
Mrs. Bethany löste sich aus der Menge. Sie sah keineswegs eingeschüchtert aus. Nur ein Ausdruck milden Interesses lag auf ihrem Gesicht. Ihr langes, gestärktes Spitzenkleid war strahlend weiß.
»Befreie uns!«, dröhnte Vic. Die wahnsinnige, kratzende Stimme ließ den ganzen Raum erbeben. »Befreie uns. Oder wir werden zuschlagen, und eure Art wird zugrunde gehen.«
Ungerührt erwiderte Mrs. Bethany: »Wenn ihr mich zwingt, euch aus euren menschlichen Ankern auszutreiben, dann werden diese entsetzlich leiden. Einige könnten sogar sterben.«
Die grausame Maske auf Vics Gesicht blieb reglos. »Ihr seid gewarnt worden.«
Dann, mit einem Schlag, als ob alle Fäden der Marionetten durchgeschnitten worden wären, brachen alle Menschen wieder ohnmächtig zusammen, doch dieses Mal nur für eine Sekunde. Innerhalb weniger Augenblicke standen sie wieder auf und rieben sich die Köpfe, als wären sie gestolpert und wüssten nun nicht genau, was geschehen war. Niemand schien sich richtig zu erinnern, was vermutlich ein Segen für die meisten Beteiligten war.
Ich versuchte, die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir würden heute Nacht die meisten der Fallen aufspüren. Bald schon würden wir selbst in der Lage sein, die Geister zu befreien, sobald wir herausgefunden hätten, wie wir ohne Risiko vorgehen konnten. Nach und nach würde ich vermutlich viele von ihnen überzeugen, die Welt der Sterblichen mit mir zusammen zu verlassen, weil sie hier nicht länger in Sicherheit waren.
Und doch spürte ich, dass etwas Entsetzliches in Gang gesetzt worden war – etwas, das wir nicht mehr würden aufhalten können.
19
»Ich kann’s nicht glauben, dass ich zum Bösewicht geworden bin.« Vic saß auf den Stufen zum Pavillon, wo wir uns alle versammelt hatten, nachdem sich das Chaos wieder ein bisschen gelegt hatte. Obwohl es noch nicht mal Mitternacht war, hatte der Herbstball sein endgültiges Ende gefunden. »Habe ich mit den Augen Feuerbälle verschossen oder irgend so etwas Cooles?«
»Nein, du warst nur einfach höllisch makaber.« Lucas lehnte sich gegen das Geländer des Pavillons. Er hatte die Krawatte seines Abendanzugs gelockert und seinen Kragen aufgeknöpft, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit gehabt, um diesen Anblick zu genießen. Skye hatte sich, ebenso wie die meisten menschlichen Schüler und viele der Vampire, längst in ihr Zimmer zurückgezogen: Auf das massenhafte Besessensein folgte offenbar eine allgemeine Panikstimmung. »Und die Geister wollten einfach nicht auf dich hören, Bianca?«
»Sie haben zugehört, aber sie hatten Angst.« Ich setzte mich neben ihn aufs Geländer und hatte beinahe einen festen Körper angenommen. »Was auch immer sie jetzt vorhaben, es wird bald passieren. Wenn wir diese Geister nicht zügig befreien, dann befürchte ich, dass sie anfangen, uns hier etwas anzutun – den Menschen, den Vampiren, einfach allen.«
Patrice, die bei dem Vorfall
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