Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
hatte statt einer Glasscheibe eine Art Wachstuchfolie.
Ein struppiger Hund schlief neben der Feuerstelle, den Rücken der Wärme zugekehrt. Balthazar lächelte und beugte sich hinunter, um ihn zu streicheln. »Hallo, Fido.«
Fido rührte sich nicht. Vielleicht konnte er im Traum die Berührung nicht spüren.
Dann hörte ich aus dem Innern die Stimme einer Frau, scharf und wütend.
»Dein Ungehorsam ist eine schwere Bürde für uns, Charity.«
»Es tut mir ja so leid, Mutter.« Charitys Stimme war kräftig und klar zu hören, und sie klang nicht im Mindesten bedauernd. »Aber ich fürchte, ich werde noch ungehorsamer sein.«
Ich hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, seitdem Balthazar mich gebeten hatte, in seine Träume einzudringen, aber das machte es nun nicht leichter, es zu ertragen. Der Qual in Balthazars Augen nach zu urteilen, erging es ihm genauso.
Balthazar schritt zur Vordertür und öffnete sie. Nun konnte ich Charity sehen, die in ihrem langen, dunklen Kleid mit einer weißen Schürze dort stand, auf dem Kopf eine kleine, weiße Baumwollhaube. Ihr Gesicht war jünger, als ich es in Erinnerung hatte. Die Szene schien einige Jahre vor ihrem Tod zu spielen, sie war also noch ein Kind. Vor ihr saßen ein Mann und eine Frau – offenbar Charitys und Balthazars Eltern –, die in derselben steifen Mode wie ihre Kinder gekleidet waren. Ihre Mienen waren ernst und freudlos.
Charity grinste, und dieser Ausdruck war zu erwachsen für ein Gesicht, das noch rund vom Babyspeck war. Balthazars Schwester riss sich die Haube vom Kopf, sodass ihre blonden Locken zum Vorschein kamen. »Ich werde meine Haare nicht länger bedecken. Ich werde nicht mal meinen Körper verhüllen, wenn ich keine Lust mehr dazu habe.«
»Der Teufel ist in dich gefahren, mein Kind«, donnerte ihr Vater. Er sah aus wie eine ältere, schwerere Ausgabe von Balthazar, doch er wirkte verhärmter. Unangenehm. Da war keine Liebe, als er seine Tochter tadelte, nur Ablehnung.
»Das stimmt!« Charity lachte laut auf und genoss es sichtlich, ihre strengen Eltern noch weiter zu schockieren. »Wollt ihr sehen, was der Teufel mich tun lässt?«
An Balthazar gewandt, flüsterte ich: »War sie schon immer so?«
»Ich habe es immer nur für ein gewisses Aufbegehren gehalten«, erklärte er. »Aber, ja. Charity war von Anfang an auf Ärger aus.«
In diesem Moment bemerkte Charity uns. Ihr Gesicht veränderte sich mit einem Schlag von strahlendem Triumph zu Verwirrung. »Was machst du denn hier? Und was treibt sie hierher?«
»Überlass sie mir«, flüsterte ich Balthazar zu. Nach alldem, was Charity Lucas angetan hatte, hätte ich sie am liebsten in Stücke gerissen.
»Nein«, sagte Balthazar und trat zwischen uns. »Sie kann dich hier verletzen. Aber für mich ist es nur ein Traum. Sie hat hier keine Macht über mich.«
Ebenso wie sie Lucas angegriffen hatte, griff er nun sie an.
Balthazar machte einen Satz nach vorne und riss Charity mit sich auf zu Boden. Obwohl ihre Eltern protestierten, schenkten ihnen weder Balthazar noch Charity große Beachtung; sie waren nur Traumbilder. Dieser Kampf jedoch war echt. Charity schlug Balthazar mit aller Kraft mit dem Handrücken ins Gesicht, aber Balthazar gelang es, ihr einen ihrer Arme auf den Rücken zu drehen und sie zur Feuerstelle zu schieben. Als ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von den Flammen entfernt war, begann sie zu schreien. »Hör auf, Balthazar, du tust mir weh, du tust mir weh!«
»Und ich hasse das.« Seine Stimme zitterte. »Das weißt du.«
»Es war wohl nicht genug, mich zu töten!« Sie wand sich heftig in seinem Griff und versuchte mit ihrem freien Arm, ihm das Gesicht zu zerkratzen, aber sie konnte ihn nicht erreichen. Die ganze Szene war schon schrecklich genug, aber sie wurde noch schlimmer, als ich sah, wie kindlich und hilflos Charity wirkte.
»Und jetzt willst du mich auch noch hier quälen?«
»Ich will dich gerne in Ruhe lassen. Genauso, wie du mich in Frieden lassen willst. Aber du musst dich von Lucas fernhalten.«
Charity lachte, obwohl ihre goldenen Locken bereits angesengt waren.
»Er gehört mir. Nur mir. Du liebst Bianca mehr als mich, und sie liebt Lucas mehr als dich. Aber sie wird ihn niemals so besitzen wie ich.«
»Du wirst dich von Lucas fernhalten«, sagte Balthazar in drohendem Tonfall. »Sonst … Du dringst jede einzelne Nacht in seine Träume ein, um ihn dort zu quälen? Dann komme ich in deine Träume, um das Gleiche zu tun.«
»Dazu
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