Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
Blick zuzuwerfen, und er verlangsamte seine Schritte nicht. Seine Entschlossenheit war ebenso groß wie sein Hunger, jedenfalls im Augenblick.
Lucas lief weiter in Richtung Nordturm, wo die Jungen untergebracht waren. Ich blieb bei ihm. Einige Eiskörnchen bildeten sich auf dem Fenstersims ganz in der Nähe, und ich schwebte eilig ein bisschen höher, näher unter die Decke. Ich würde es lernen müssen zu vermeiden, Frost und Eis hervorzubringen. Bis dahin würde es für mich besser sein, hier oben in der Luft zu bleiben, wo es immerhin unwahrscheinlich war, dass meine Kältespuren irgendjemandem auffielen.
Ein Murmeln wogte durch die Menge, als ob irgendwo etwas los wäre. Ich blickte zurück und sah, dass einige der Schüler eine Gasse bildeten. Offenbar schob sie jemand zur Seite, um näher zu Lucas zu gelangen. Mrs. Bethany war es also doch nicht gelungen, alle zu beruhigen.
Ich drückte mich in eine Ecke. Lucas legte den Kopf schräg, denn er hörte die Gefahr, noch ehe er sie sehen konnte. Dann wandte er sich seinem potenziellen Angreifer zu. Wahrscheinlich erwartete er einen jüngeren Vampir, der noch ganz frisch in Evernight und bereit war, seiner Mordlust nachzugeben, sobald sie ihn das erste Mal überfiel. So war es auch bei Erich gewesen, dem Kerl, der Raquel in unserem ersten Jahr hier nachgestiegen war. Mit einem solchen Typen würde Lucas spielend fertig werden, das wusste ich.
Aber als der Angreifer in Sicht kam, war es jemand, mit dem Lucas nicht gerechnet hatte. Jemand, auf den auch ich nicht gefasst war.
Es war meine Mutter.
Mom baute sich vor Lucas auf, die Fäuste neben dem Körper geballt, einen wilden Ausdruck in den Augen. »Ist es wahr? Sag es mir.« Ihre Stimme zitterte. »Ich will, dass du mir ins Gesicht schaust und mir sagst, dass es wahr ist.«
Lucas sah aus, als hätte ihm jemand einen Hieb in den Magen verpasst. Als er aber den Mund öffnete, um zu antworten, drängte sich Balthazar durch die Menge, bis er neben den beiden stand und Mom am Arm packte. »Nicht hier«, sagte er leise.
Mom drehte nicht einmal den Kopf, als ob sie Balthazar weder sehen noch hören würde, doch einen Moment später nickte sie und marschierte in Richtung Treppenhaus. Es schien, als kümmerte es sie überhaupt nicht, ob Lucas ihr folgte oder nicht.
Lucas ging ihr nach. Auch Balthazar setzte sich in Bewegung, aber Mom warf ihm einen Blick zu, der ihn auf der Treppe wie angewurzelt stehen bleiben ließ.
Sie führte Lucas in ein kleines Arbeitszimmer im zweiten Stock. Ich begleitete die beiden, auch wenn sich alles in mir verzweifelt dagegen sträubte zu hören, was als Nächstes kommen würde.
Kaum hatte Mom die Tür hinter sich und Lucas geschlossen, wiederholte sie: »Sag mir, dass es wahr ist, Lucas.«
»Es ist wahr«, antwortete Lucas leise. Er sah noch lebloser aus als in der Nacht, in der er umgebracht worden war. »Bianca ist gestorben.«
Meine Mutter wich taumelnd zurück, als hätte sie sich so oft im Kreis gedreht, bis ihr schwindelig wurde. Ihr Gesicht verzerrte sich, und sie brach in Tränen aus. »Sie sollte doch für immer leben«, flüsterte sie. »Bianca sollte doch für immer unser kleines Mädchen bleiben.«
»Mrs. Olivier. Es tut mir so leid.«
»Es tut dir leid? Leid? Du hast unsere Tochter dazu gebracht, ihr Zuhause und ihre Familie zu verlassen und die Unsterblichkeit aufzugeben, die ihr zustand – die ihr angestammtes Recht war – und nun ist sie tot. Sie ist für immer fort, und das Einzige, was dir einfällt, ist, dass es dir leidtut?«
»Was soll ich denn sonst noch sagen?«, schrie Lucas. »Es gibt keine Worte dafür! Ich wäre für sie gestorben. Ich habe es sogar versucht, aber ich bin gescheitert. Ich hasse mich dafür, und wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es sofort tun, aber … aber …« Seine Stimme versagte und wurde zu einem Schluchzen. Er versuchte, sich zusammenzureißen, aber er schaffte es nur mit Mühe. »Wenn Sie mich töten wollen, dann werde ich Sie nicht aufhalten. Ich würde Ihnen nicht mal einen Vorwurf machen.«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und einige Strähnen ihres karamellfarbenen Haares klebten an ihren geröteten Wangen.
»Wenn du dich selbst so sehr hasst, wie du sagst – wenn du auch nur ein Zehntel unserer Liebe für Bianca empfunden hast –, dann verdienst du die Unsterblichkeit. Du verdienst es, für alle Ewigkeit zu leben, sodass dein Leid nie aufhört.«
Auch Lucas
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