Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
kamen jetzt die Tränen, aber er hatte sein Gesicht nicht abgewandt und brachte all seine Willensstärke auf, um dem Blick meiner Mutter standzuhalten. Ich schaffte das nicht.
Das alles war nicht Lucas’ Fehler gewesen. Die Schuld lag bei mir.
Eine Sekunde lang überlegte ich, ob ich hier im Raum Gestalt annehmen sollte. Wenn meine Mom sah, dass etwas von mir weiterlebte, dann würde sie vielleicht nicht so schrecklich leiden. Aber im Moment schämte ich mich viel zu sehr, sie so verletzt zu haben, als dass ich mein Gesicht hätte zeigen wollen.
»Es ist noch nicht zu Ende«, sagte Mom. Blind vor Tränen schob sie sich an Lucas vorbei auf den Gang hinaus. Lucas ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. Ich wollte eine körperliche Form annehmen und ihm Trost spenden, aber ich hatte das Gefühl, dass es ihn im Augenblick vielleicht nicht so sonderlich trösten würde, mich als Geist zu sehen.
Außerdem gab es noch etwas anderes, das ich tun musste.
Ich folgte meiner Mutter den Gang hinunter. Sie wischte sich über die Wangen, machte aber ansonsten keinerlei Anstalten, ihr Schluchzen zu verbergen. Viele der Schüler, sowohl Vampire als auch Menschen, warfen ihr neugierige Blicke zu, aber das schien ihr gleichgültig zu sein.
Sie stieg die steinerne Wendeltreppe empor, die in den Südturm führte, wo sich die Wohnung meiner Familie befand, und ich blieb bei ihr. Mein Vater lag auf dem Sofa, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen trüb. Er sah meiner Mutter nicht entgegen, als sie eintrat. Dad hatte eine seiner alten Schallplatten aufgelegt. Ich erkannte die Henry-Mancini-Songs, die ich als Kind immer sehr gemocht hatte. Audrey Hepburn sang »Moon River«.
»Es stimmt«, sagte meine Mutter leise.
»Ich weiß. Ich glaube … Ich glaube, ich weiß es schon seit einer ganzen Weile. Ich wollte nur nicht …« Dad presste die Augenlider zusammen, als versuchte er, Mom, die Erinnerung und den ganzen Rest der Welt auszublenden.
Meine Mutter legte sich neben ihn aufs Sofa und nahm ihn fest in ihre Arme. Als sie ihre Wange an seine dunkelroten Haare presste, begannen seine Schultern unter heftigem Schluchzen zu beben.
Ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Egal, wie sehr ich mich schämte, und egal, wie schwer es noch werden würde: Es konnte nicht schlimmer sein, als sie so leiden zu sehen. Es wurde Zeit, mich ihnen zu zeigen und sie wissen zu lassen, was aus mir geworden war.
Aber als ich gerade dabei war, meine körperliche Gestalt anzunehmen, und mir den Kopf zerbrach, was die passenden ersten Worte sein würden, presste meine Mutter hervor: »Möge Gott diese Geister verdammen.«
Ich erstarrte.
»Sie tragen die Schuld«, fuhr sie fort. »Was geschehen ist, haben sie zu verantworten.«
Dad zog Mom enger an sich heran. »Ich weiß, meine Liebe. Ich weiß.«
»Ich hasse sie. Ich hasse sie alle. Und solange ich auf dieser Erde wandle, werde ich nicht aufhören, sie zu hassen …« Ihre Stimme versagte und ging wieder in Schluchzen über.
Sie verabscheuten die Geister dafür, dass sie mich geholt hatten, dass sie Evernight heimsuchten, ja für ihre bloße Existenz. Wenn ich nun vor ihren Augen erschiene, würde sie mich nicht mehr für ihr kleines Mädchen halten. Ich wäre nichts als ein Monster. Ebenso wie Lucas für Kate zum Monster geworden war.
Es war mir nie bewusst gewesen, wie sehr ich ihrer Liebe bedurfte, bis ich sie jetzt verloren wusste.
Und so zeigte ich mich ihnen dann doch nicht. Wie hätte ich das übers Herz bringen sollen? Ich hätte für sie alles nur noch schlimmer gemacht, für sie und für mich, so unglaublich es auch scheinen mochte, dass irgendetwas noch furchtbarer als dieser Moment werden konnte. Im Vergleich damit war es ganz leicht gewesen zu sterben.
Ich blieb noch lange da und sah ihnen beim Weinen zu. Ich hatte es verdient, das anschauen zu müssen.
Sie weinten sich in den Schlaf, aber ich brachte es nicht über mich, sie allein zu lassen. Eine ganze Zeit lang schwebte ich noch durch mein altes Zimmer. Offensichtlich hatten die meisten Besitztümer der Familie das Feuer überstanden, denn ich fand viele meiner früheren Sachen noch unversehrt vor. Klimts »Kuss« hing noch immer an der einen Wand: ein Bild strahlender, vollkommener Liebender, die in meiner Vorstellung für mich und Lucas standen.
Wir werden wieder dahin zurückkehren , dachte ich. Wir werden einen Weg finden .
Ich schwebte durch das Fenster nach draußen, ohne mich um die wachsenden Eisblumen zu
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