Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
schlafende Gestalt und hoffte, dass er etwas träumte. Wenn ich mich richtig erinnerte, dann war es ein wenig, wie in ein Schwimmbecken zu springen – ich warf mich nach unten, nach innen, jede Faser von mir in einer angespannten Linie …
Augenblicklich war ich in Lucas’ Traum eingetaucht.
Die Umgebung war jetzt vertraut: Dies war der Aktenraum oben im Nordturm. Neue, klebrige Spinnennetze hingen in den Ecken des Zimmers, und sepiagoldene Papierseiten lagen hier und dort auf dem Boden verstreut. Mrs. Bethany benutzte diese Kammer nur, um die Akten aufzubewahren, die sie nicht mehr länger brauchte, wie zum Beispiel Zeugnisse aus dem Jahr 1853 und ähnlichen Kram. Trotzdem war hier in den letzten Jahren eine Menge geschehen. Dies war der Ort, an dem Lucas gegen Erich – diesen elenden Vampir, der Raquel verfolgt hatte – gekämpft und ihn getötet hatte. Hier hatten Balthazar und ich die ersten Hinweise auf Mrs. Bethanys eigentlichen Plan entdeckt. Und hier waren Lucas und ich wieder zusammengekommen, nachdem er erfahren hatte, dass ich das Kind von Vampiren war. Er hatte mich ohne Wenn und Aber akzeptiert, ebenso wie ich ihn ohne Vorbehalte so annahm, wie er war. Und das war auch gut so, dachte ich, wenn man bedachte, in was wir uns seitdem verwandelt hatten.
Lucas stand am Fenster und starrte hinaus in den Nachthimmel. Sein Haar war etwas länger, als es bei unserem ersten Treffen gewesen war. Ich lächelte, und in diesem Moment fiel mir auf, dass ich wieder einen Körper hatte – oder worin auch immer man in der Welt der Träume steckte. Das bedeutete, dass ich Lucas in die Arme schließen konnte, und wir konnten all das miteinander teilen, was uns in unseren wachen Stunden verwehrt war. Hier, im Schlaf, würden wir nur für uns und sicher sein.
Als ich näher kam, bemerkte ich, dass Lucas einen Pflock in den Händen hielt. Seltsam , dachte ich. Dann öffnete sich die Tür hinter uns.
»Klopf, klopf.« Zu meiner Überraschung trat Erich durch die Tür. »Raquel? Danke für die Einladung. Ich wusste ja, dass du es nicht abwarten kannst, mich zu sehen.« Sein gieriger Gesichtsausdruck veränderte sich und wurde ärgerlich, als er Lucas am Fenster stehen sah. Mir war nicht klar, ob er mich bereits entdeckt hatte oder nicht. »Was zur Hölle machst du denn hier?«
»Wollte nur mal sehen, ob ich Raquels Handschrift gut genug fälschen kann, um dich hier nach oben zu locken«, sagte Lucas. Er lief geradewegs an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Offensichtlich spielte ich in diesem Traum keine Rolle. »Scheint mir der Fall zu sein.«
»Du hast mir einen dummen Streich gespielt, nur um mit mir allein zu sein? Bist du eine Schwuchtel, oder was?«
»Es wäre dein Glückstag, wenn es nur das wäre.« Lucas umkreiste Erich, und sein ganzer Körper war angespannt und sprungbereit. In der Sekunde, in der er zwischen Erich und der Tür stand, ließ er Erich den Pflock sehen. »Aber es ist nicht dein Glückstag.«
»Das Schwarze Kreuz«, spuckte Erich aus.
»Vampire«, erwiderte Lucas mit ebenso tiefem, markerschütterndem Hass.
Sie machten einen Satz aufeinander zu. Raubtier und Jäger. Ich schrie auf, als sie zu Boden fielen und sich Erichs Hand um Lucas’ Kehle schloss.
Das ist nicht real , sagte ich mir, aber das stimmte nicht. Ganz offensichtlich war dies Lucas’ Erinnerung an seinen letzten Kampf mit Erich. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass Lucas getan hatte, was er hatte tun müssen, aber ich hatte nie geahnt, wie gefährlich dies für ihn gewesen war. Wie beängstigend musste diese Situation für ihn gewesen sein, dass sie ihn noch immer in seinen Albträumen plagte.
Während Lucas und Erich auf dem Boden miteinander rangelten, fiel Raquels dunkel gewordenes Lederarmband hinab. Erich musste es in seiner Tasche gehabt haben. Lucas stieß Erich mit aller Kraft von sich und keuchte: »Sammelst du Trophäen? Damit du dich an deine Opfer erinnerst?«
»Raquel wird mir gehören«, sagte Erich. Seine Reißzähne waren herausgekommen und verunstalteten sein Lächeln. »Und ich hätte sie schon vor Wochen haben können, wenn deine dumme Freundin nicht gewesen wäre.«
»Na, dann komme ich ja genau richtig.« Lucas trat gegen einen der wackligen Türme von alten Kisten, die polternd über Erich zusammenstürzten. Aber wie jedes Monster in einem Traum schien er urplötzlich woanders zu stehen und griff Lucas aus einer völlig unerwarteten Richtung an.
»Wusstest du, dass deine Freundin eine
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