Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
unmittelbar neben uns zerbarsten, und Dad und ich machten einen Satz zurück. Auf der anderen Seite, über und über mit Eissplittern übersät, standen Vic und Patrice. Vic, der die Axt in den Händen hielt, sah aus, als hätte er noch nie in seinem Leben mehr Spaß gehabt; Patrice strich sich vorsichtig ihre tropfnassen Locken aus den Augen. »Wie geht es Ihnen, Mr. Olivier?«, fragte Vic fröhlich.
Patrice streckte mir ihre teure Puderdose entgegen, die vollständig mit Eis überzogen war. »Irgendwelche Vorschläge, was ich damit jetzt machen soll? Ich werde sie jedenfalls nicht einfach zurück in mein Make-up-Täschchen stecken.«
Dad starrte die beiden an, dann mich, als versuchte er, eins und eins zusammenzuzählen. »Warte mal! Deine Freunde … wissen von dir? Und sie verbringen ihre Zeit mit dir?«
»Ja. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wie das funktionieren kann, aber wir haben es geschafft.«
»Lucas … Balthazar …« Dad runzelte die Stirn.
»Ja, sie haben es die ganze Zeit über gewusst«, sagte ich. »Sei nicht sauer auf sie, dass sie dir nichts gesagt haben. Ich habe sie darum gebeten.«
»O Mann, verrückt.« Vic versteckte die Axt hinter seinem Rücken, als wäre dies der Stein des Anstoßes, der die Sache kompliziert werden ließ. »Wollen wir gehen?«
»Ich werde dieses Ding nicht mitnehmen«, beharrte Patrice und streckte die mit Eis überzogene Puderdose von sich weg, als würde sie schlecht riechen.
»Geben Sie sie mir.« Dad sah, wie sie zögerte, und seufzte: »Sie bekommen sie später wieder.«
Patrice sah aus, als würde sie das stark bezweifeln, aber sie reichte Dad die Puderdose.
»Gut, das wäre geschafft. Bin froh, dass ich helfen konnte. Wir sehen uns nachher, in Ordnung?«
»Okay«, antwortete ich. Vic nickte uns nur zu und lief Patrice wie ein Schaf hinterher. Auf dem Weg nach draußen sah ich, wie Patrice unzufrieden ihre Finger musterte; offenbar hatte sie in der Eile, mir zu Hilfe zu kommen, ihre frisch manikürten Nägel ruiniert. Für Patrice war das ein Zeichen echter Zuneigung.
Mein Vater und ich waren wieder unter uns. Wortlos machten wir einen großen Schritt über die Überreste der schmelzenden Eiswände hinweg und zogen uns in eine behagliche Ecke der Bibliothek zurück, wo sich zwischen zwei der höchsten Bücherregale ein kleines Sofa versteckte. Es war ein guter Platz, um sich hinzusetzen und sich zu unterhalten, auch wenn im Moment keiner von uns beiden etwas sagte. Es gab so viel zu besprechen, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Schließlich begann ich einfach mit dem Ausgangspunkt der heutigen Konfrontation. »Was hast du denn mit dem Kästchen vorgehabt?«
»Ich habe versucht, den Geist einzufangen.« Seine Augen wanderten zur gegenüberliegenden Wand der Bibliothek, dem Ort, wo die erste Falle versteckt gewesen war. Dads Hand schloss sich um meine, als wollte er mich keine Sekunde lang mehr loslassen. »Aber der Geist ist hier eingedrungen, ohne …«
»Ohne gefangen zu werden. Weil die Falle zerstört ist.« Mir dämmerte zum ersten Mal, dass mein Vater vielleicht die Antworten, die ich so gerne bekommen wollte, bereits kannte. »Dad, was ist denn hier los? Warum stellt Mrs. Bethany all diese Fallen für die Geister auf?«
»Natürlich, um sie aufzuhalten. Sie sind nicht alle so wie du. Die meisten ähneln eher dem Ding, das wir gerade festgesetzt haben.«
»Nein, die meisten sind eher so wie ich. Sie sind wie die Menschen, die sie vor ihrem Tod waren. Aber diejenigen bekommt man nicht zu sehen. Sie spuken nicht in Häusern herum.«
Er öffnete den Mund, um mir zu widersprechen, dann schien ihm einzufallen, dass ich in dieser Angelegenheit vielleicht mehr als er wusste. »Ihr hättet mir erzählen können, dass ich mich in einen Geist verwandeln könnte, stimmt’s? Aber weil ihr dachtet, es würde bedeuten, dass aus mir ein furchterregendes, entsetzliches Ding werden würde … etwas, das nie wieder eure Tochter sein könnte, habt ihr euch dagegen entschieden.«
»Ich habe die Worte einfach nicht über die Lippen gebracht, und wir haben auch erwartet, dass dir das Angst einjagen würde.« Dad sah sehr müde aus. »Wir haben einfach versucht, das Vampirdasein so attraktiv wie möglich für dich zu machen. Es schien überhaupt keinen Grund zu geben, warum du dieses Schicksal in Frage stellen oder dich davon abwenden solltest.«
Nicht, bis ich mich in einen Menschen verliebt habe , dachte ich. Das war die wahre
Weitere Kostenlose Bücher