Evernight Bd.1 Evernight
einen viel raueren Burschen gehalten und für jeman den, dem es nicht das Geringste ausmachte, wenn er ständig in Prügeleien verwickelt war. Tja, und nun war er gerade mal wieder an einem Kampf beteiligt gewesen. Bewies das, dass ich recht gehabt hatte? Oder zeigte die Tatsache, dass er gerade gründlich den Kürzeren gezogen hatte, dass Lucas doch nicht so ein harter Kerl war?
Schließlich fragte ich: »Alles klar bei dir?«
»Ja, alles bestens.« Lucas sah nicht auf. »Man braucht schließlich nur ein oder zwei Backenzähne. Auf den Rest kann man verzichten.«
»Er hat dir Zähne ausgeschlagen?« Vic wurde bleich.
»Einer sitzt ganz schön locker, aber ich glaube, der wird wieder.« Lucas machte eine Pause, dann sah er mich an und meinte: »Ich habe dir ja gesagt, dass es irgendwann so kommen wird.«
Er hatte mir gesagt, dass er irgendwann ein Ausgestoßener in Evernight sein würde. Und dass dieser Tag jetzt gekommen war, war mehr als offensichtlich.
Aber warum tat er so, als ob er mich nur zu meinem eigenen Besten verlassen hatte? Ich war doch diejenige, die sich von ihm abgewandt hatte.
»Hauptsache, du bist in Ordnung«, sagte ich. Und wieder ging ich von ihm fort, während er noch immer auf dem Boden ausgestreckt dalag. Vielleicht würde ihm dieses Mal auffallen, wer von uns beiden das Feld räumte.
Ich war durcheinander, und mich überfiel Traurigkeit, die meine Schultern niederdrückte und meine Kehle zuschnürte. Ich biss mir auf die Lippen, kräftig genug, um mein eigenes Blut zu schmecken. Dann riss ich mich zusammen, aber trotzdem konnte ich nicht zurück in Raquels Zimmer. Ich war noch nicht bereit, mich ihren Fragen zu stellen. Und so ging ich in die Bibliothek, um mich die nächste knappe halbe Stunde lang dort zu verstecken, bis Politische Weltkunde anfing. Bestimmt würde ich dort etwas zu lesen finden, vielleicht einige Astronomiebücher oder notfalls auch einfach ein Modemagazin. Wenn ich mich eine Weile hinter Büchern verschanzte, würde ich mich vielleicht wieder besser fühlen.
Als ich auf die Tür zuging, wurde sie gerade aufgestoßen, und Balthazar stand im Rahmen. Er warf einen gespielt komischen Blick den Flur entlang. »Ist die Luft rein?«
»Wie bitte?«
»Ich schätze, du kommst gerade vom Königskampf zwischen Lucas und Erich.«
»Die Schlacht ist vorbei.« Ich seufzte. »Erich hat gewonnen.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Tatsächlich? Ich dachte, die meisten hier mögen Lucas nicht.«
»Er ist auf jeden Fall ein Unruhestifter«, sagte Balthazar. »Aber Erich auch, und er zieht hier andere Leute auf seine Seite. Ich schätze, ich habe bei allen Auseinandersetzungen eine Schwäche für den Underdog.«
Ich lehnte mich gegen die Wand. Ich fühlte mich bereits so erschöpft, als wäre es mitten in der Nacht und nicht früher Nachmittag. »Manchmal ist die Stimmung hier so angespannt, dass ich mich wundere, warum die Schule nicht wie Glas zersplittert.«
»Du solltest dich mal entspannen. Eine Zeit lang nicht arbeiten«, witzelte Balthazar.
»Ich bin nicht hier, um zu lernen. Ich schätze, ich wollte einfach nur rumhängen.«
»Rumhängen - in der Bibliothek? Okay, weißt du was?« Er beugte sich näher zu mir. »Du solltest mehr rauskommen.«
Ich fühlte mich zu elend, um zu lachen, aber immer hin brachte ich ein Lächeln zustande. »Das ist noch untertrieben.«
»Dann lass mich einen Vorschlag machen.« Balthazar zögerte gerade lange genug, damit ich begriff, was er vorhatte, dann schloss sich auch schon seine Hand um meine. »Komm mit mir zum Herbstball.«
Trotz aller Anspielungen und Scherze von Patrice hatte ich nicht im Traum daran gedacht, dass Balthazar mich fragen würde. Er war der bestaussehende Junge in der Schule, und er hätte jede einladen können. Obwohl wir gut miteinander klarkamen und Freunde waren - und auch wenn ich nicht gegen seinen beachtlichen Charme immun war -, hatte ich mir diesen Augenblick nie ausgemalt. Und ich hätte nie vermutet, dass mein erster Impuls war, die Aufforderung abzulehnen.
Allerdings wäre das dumm gewesen. Der einzige Grund, warum ich die Einladung ausschlagen wollte, war, dass ich noch immer hoffte, von jemand anderem gefragt zu werden, nur dass dieser Jemand mich niemals bitten würde, weil ich ihn zum Teufel gejagt hatte.
Balthazar sah mich zärtlich an, seine braunen Augen waren voller Hoffnung. Alles, was ich herausbrachte, war: »Liebend gerne.«
»Großartig.« Sein Lächeln vertiefte das Grübchen in
Weitere Kostenlose Bücher