Evernight Bd.1 Evernight
Mum etwas ruhiger hinzu: »Unsere Geheimnisse schützen uns, Bianca. Eines Tages wirst du das verstehen.«
Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts von alledem jemals würde begreifen können. Ich ließ mich neben Lucas auf das Sofa sinken, sodass wir wenigstens beieinander wären, wenn die Bombe platzte. In trübem Schweigen harrten wir drei mehrere Minuten lang aus, bis Schritte im steinernen Treppenhaus widerhallten. Das Geräusch ließ mich schaudern. Mrs. Bethany war im Anmarsch.
Sie stürmte herein, als ob es sich um ihre eigene Wohnung handelte und wir nichts als Eindringlinge wären. Mein Vater hinter ihr hätte auch gut ihr Schatten sein können. Lavendelgeruch umwehte sie und verwandelte kaum merklich den Ort von unserem in ihren. Sofort heftete sie ihre dunklen Augen auf Lucas, der ihr unbeirrt entgegensah, aber nichts sagte.
»So viel also zu Ihrer versprochenen Zurückhaltung, Miss Olivier.«
Ihr langer Rock wischte über den Fußboden, als sie näher trat. An diesem Abend trug sie am Kragen ihrer Bluse eine silberne Anstecknadel, die so poliert war, dass sie das Licht widerspiegelte. Mrs. Bethanys Fingernägel waren im dunkelsten Rot lackiert, das man sich vorstellen kann, aber das verbarg nicht die tiefen Furchen auf jedem einzelnen Nagel. »Ich hatte damit gerechnet, dass es früher oder später dazu kommen würde. Jetzt ist es also früher geschehen.«
»Es war nicht Biancas Schuld«, sagte Lucas. »Es war meine.«
»Wie galant von Ihnen, Mr. Ross. Aber ich denke, es ist ganz offensichtlich, wer hier der aktive Part war.« Sie riss seinen Hemdkragen auf, was eine seltsam intime Geste einer Lehrerin gegenüber einem Schüler war. Lucas wurde nervöser. Wenn sie ihm tatsächlich die Hand auf den Hals legte, würde er nach ihr schnappen, glaubte ich. Er hatte schon wegen viel geringerer Dinge die Kontrolle verloren. Stattdessen jedoch besah sie sich die rosafarbenen Narben, die nach zwei Wochen noch zu sehen waren. »Sie sind zweimal von einem Vampir gebissen worden. Wissen Sie, was das bedeutet?«
»Wie sollte er denn?«, fragte ich. »Bis vor einigen Monaten hat er noch nicht einmal gewusst, dass Vampire wirklich existieren.«
Mrs. Bethany seufzte. »Erinnern Sie mich daran, dass ich im Unterricht bespreche, was eine rhetorische Frage ist. Wie ich schon sagte, Mr. Ross, Sie sind von nun an als einer der unseren gezeichnet.«
»Gezeichnet?«, wiederholte Lucas. »Sie meinen, ich bin als zu Bianca gehörend gezeichnet?«
»Die Verwandlung ist zunächst kaum merklich.« Langsam lief sie um Lucas herum und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ich spüre es jetzt, aber nur, weil Sie meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt haben. Im Laufe der Zeit jedoch wird die Verwandlung immer deutlicher werden. Die anderen Vampire um Sie herum werden sie ebenfalls bemerken. Und schließlich wird es unmöglich für die anderen sein, die Tatsachen zu ignorieren. Sie haben sich einer Vampirin hingegeben, und zwar mehr als einmal. Das hat Sie bis an die Schwelle gebracht, hinter der Sie zu einem von uns werden.«
Lucas unterbrach sie: »Bedeutet das, dass ich auf jeden Fall ein Vampir werden muss?« Ich wurde ganz zappelig und konnte meine Hoffnung kaum noch verbergen. Meine Mutter warf mir einen Blick zu, bei dem ich rasch wieder ganz still saß.
Mrs. Bethany schüttelte den Kopf. »Nicht notwendigerweise. Sie können auch ein langes Leben führen und aus anderen Gründen sterben, wenn das etwas ist, das Sie für einen Grund zum Feiern halten. Trotzdem werden Sie sich schon bald immer mehr zu Miss Olivier hingezogen fühlen, deren Mangel an Disziplin bereits deutlich zutagegetreten ist.« Dad machte einen Schritt auf sie zu, als wollte er mich verteidigen, aber Mum legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. »Andere Vampire werden Sie ebenso anziehend finden, auch wenn das Tabu, die erwählte Beute eines anderen Vampirs zu jagen, Ihnen Schutz bieten sollte… wenigstens eine Zeit lang. Und schließlich, Mr. Ross, wird Ihnen die Aussicht ebenso verlockend vorkommen wie Bianca. Sie werden das Vampirdasein mehr begehren als alles, was Sie sich sonst noch vorstellen können. Es ist ein Sehnen, das kein rein menschliches Wesen nachfühlen kann. Wenn diese Zeit gekommen ist, werden Sie sich vermutlich entscheiden, sich uns anzuschließen.«
Wenn Lucas durchdrehen wollte, dann wäre dies der richtige Augenblick gewesen. Aber er blieb ganz ruhig. »Bedeutet das, dass ich noch in einer Art… Zwischenstadium
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