Evernight Bd.1 Evernight
hatten.
»Mum und Dad sagen, dass manche Leute auch verschwinden«, murmelte ich. »Dass sie das Gefühl für Zeit und die Menschheit völlig verlieren. Die Evernight-Akademie wurde gebaut, damit die Vampire nicht in diese Falle tappen. Glaubst du, dass es das war, was meine Eltern meinten? Vielleicht besteht der Stamm aus den Vampiren, die verschwunden sind. Sie sind Eremiten und Einsiedler ohne jede Verbindung zu Menschen.« Der Gedanke ließ mich schaudern.
»Erschreckt dich die Vorstellung?«
»Ja, ein bisschen schon.«
Lucas strich mir mit dem Daumen über die Wange. »Sollen wir eine Pause machen?«
Ich merkte, dass ich mich danach sehnte. »Ich müsste für den Geschichtskurs lernen. Es ist schon schwer genug, eine Eins zu schreiben, wenn man an Leuten gemessen wird, die die Hälfte der Ereignisse, über die man in einem Buch liest, selbst miterlebt haben. Aber jetzt nimmt mich Mum noch härter ran als sonst.«
»Nur zu.« Er hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder dem Buch mit den Vampirüberlieferungen zugewandt. »Ich bleibe einfach hier sitzen.« Lucas hob die nächste Stunde lang nicht den Kopf vom Buch, und als ich meine Sachen zusammensuchte, um mich auf den Weg nach unten zu machen, ließ er mich allein gehen, damit er weiterarbeiten konnte, bis die Bibliothek geschlossen wurde. Es gab keine Chance für ihn, das Buch mit auf sein Zimmer zu nehmen; wir waren übereingekommen, dass Vic zwar schwer von Begriff, aber nicht völlig bescheuert war, und die wahren Informationen über Vampire dort herumliegen zu lassen, wo Vic sie sehen konnte, wäre verrückt gewesen.
Hin und wieder fragte ich mich, ob Lucas noch einen anderen Grund haben mochte, sich so in Mrs. Bethanys Bücher zu vertiefen. Aber ich schob den Gedanken immer sofort wieder weg. Ich bestärkte ihn eher in seinem Forschungsdrang und dachte, er wäre immer näher dran, selber ein Vampir zu werden und für alle Zeiten mit mir zusammenzubleiben.
Natürlich gefiel diese Vorstellung nicht jedem. Courtney war ein bisschen zugänglicher geworden, nachdem ich Lucas das erste Mal gebissen hatte, denn sie hatte offensichtlich begriffen, dass ich nun »im Club« war. Allerdings wollte sie keineswegs, dass auch Lucas bei uns in den Club eintrat, was bedeutete, dass sie extrem zickig wurde, nachdem die Neuigkeit in der Schule die Runde gemacht hatte, dass ich Lucas ein zweites Mal gebissen hatte.
»Könntest du dir vorstellen, hundert Jahre lang mit dem gleichen Typen rumzuhängen?«, beklagte sie sich eines Tages in Moderne Technologien lautstark bei Genevieve, während Mr. Yee in einer Ecke geduldig versuchte, dem ständig vollkommen verwirrten Ranulf etwas zu erklären. »Ich meine, arggh ! Ein einziges Schuljahr mit Lucas Ross und seinem Benehmen ist schon zu viel. Wenn er denkt, dass ich in den nächsten Jahrzehnten meinen Frieden mit seiner armseligen Existenz mache, nur weil er versucht, sich wieder mit denen gutzustellen, denen er hier schon auf die Füße getreten ist, dann ist er schief gewickelt.«
Balthazar versuchte gerade, die Mikrowelle einzustellen, die an diesem Tag behandelt werden sollte, und rief wie beiläufig: »Hey, Courtney, hilf doch mal meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich dachte vor einiger Zeit, ich hätte dich in Französisch-Indochina gesehen, aber dann fiel mir auf, dass das ja gar nicht stimmen konnte. Du wurdest… Wann noch mal? Vor fünfzig Jahren?… verwandelt?«
»Hmm.« Mit einem Mal war Courtney höchst interessiert an den Spitzen ihres Ponys. »Ungefähr.«
»Halt, warte, nein. Nicht fünfzig.« Balthazar legte die Stirn in Falten, als ob ihn die Mikrowelle völlig durcheinanderbringen würde, obwohl ich sehen konnte, dass er bereits herausgefunden hatte, wie das mit den Reglern funktionierte. »Es war… nein, auch nicht in den Siebzigern … 1987, stimmt’s?«
»Nein!« Ihre Wangen hatten sich rosa gefärbt. Genevieve starrte ihre Freundin an; sie hatte das bislang nicht gewusst und sah geschockt aus. Courtney erwiderte: »Es war 1984.«
»Ohhh. 1984. Drei Jahre früher. Lange, nachdem die Franzosen Indochina wieder verlassen hatten. Mein Fehler.« Balthazar zuckte mit den Schultern. »Verzeih mir, Courtney. Die Jahrzehnte verschwimmen irgendwie für diejenigen von uns, die schon eine Weile hier sind.«
Ich tat so, als wenn ich nicht zuhören würde, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen, als Balthazar triumphierend den Start-Knopf drückte, und die Mikrowelle begann, einen Becher
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