Evgenia Ivanovna
Verlassenheit. Es war in der Anlage vor der gewaltigen Hagia Sophia, auf der ihr verstorbener Vater, sobald er seinem hausgemachten Likör zusprach, immer das rechtgläubige Kreuz hatte aufpflanzen wollen. Versteinert saß sie da, die Hand vor den Mund gepreßt, und um sie gingen und fuhren gravitätische bärtige Türken in ihren eigenen Angelegenheiten. Schwiegermutters Brosche und Mutters goldener Segen waren schon im ersten Monat aufgezehrt gewesen, und Geschirrspülen in den Lokalen blieb nur Erwählten vorbehalten. Kaum war sie imstande, der Verführung des leichten Lebens zu widerstehen. Schon war sie nahe dran, in allerhand Elend hineinzutaumeln. Der Glanz in den Augen trübte sich; in ihren Zügen trat das Eckige, Heilgehilfenhafte des Vaters hervor. Nebst den andern ihresgleichen, die getreten wurden von den Satten, Müßigen und Fremden, trieb knurrender Hunger sie von Großstadt zu Großstadt. Selbst im Schlafe trieb es sie in die Gruft zu ihrem Mann. Übrigens, so mächtig trieb es sie wohl nicht, da sie ganze drei Jahre dahin unterwegs war. In Paris, wohin der Wind des Exils sie verwehte nach ihren Irrfahrten durch den Balkan, stand sie davor.
Tags zuvor hatte eine Landsmännin und Nachbarin in der Absteige den Gashahn aufgedreht. Sie war älter als Shenja, häßlicher und besaß, wie Shenja, nichts mehr, was verkauft werden konnte. Die russischen Dirnen in Paris waren beileibe nicht jene eleganten Dämchen, die hüftschwenkend und mit blasierter Miene zwischen der Madeleine und der Grand Opéra flanieren. Außer den gewerblichen Fähigkeiten hätte es einer Menge Geld und guter Kost bedurft, um Shenjas magere Wangen zu füllen und ihre Augenschatten zu vertreiben. Sie war längst festen Willens, einen bequemen Ausweg aus ihrer Lage zu wählen: nur diesen nicht, es sollte ein anderer sein.
Es war der schwärzeste Tag seit jenem, wo die flüchtende Armee so denkwürdig in der Bucht von Modia ausgeschifft wurde. Der gleiche Beerdigungsregen nieselte. Shenja saß unter der nassen Markise eines Cafés und sah sich in Gedanken, scheußlich gedunsen, aber voll innerem Frieden, die Seine hinabtreiben. Alles ließ sich gut an: nichts hielt sie, niemand beschwor sie, allein, eben als sie gehen wollte, fiel ihr die Münze aus der Hand, mit der sie hatte zahlen wollen. Das Glas war leer, die Croissants verzehrt. Kniend, vor Scham vergehend, wühlte sie vergeblich in der Rinnsteinpfütze mit Zigarettenstummeln. Kellner und Gäste fixierten neugierig die fadenscheinigen Fersen ihrer Strümpfe. Im verzweifeltsten Augenblick erlöste sie ein langer, ziemlich ulkig aussehender Herr vom Nebentisch. Das Geldstück war, wie sich zeigte, unter seinen zu Boden gefallenen Hut gerollt. Erst nachdem sie gezahlt hatte, fiel ihr auf, daß die gefundene Münze ja den dreifachen Wert der verlorenen besaß. Ohne das Vorgefallene recht zu begreifen, stürzte Shenja dem Unbekannten nach, um ihm das Restgeld dieses Wunders zurückzuerstatten – mit diesem amüsanten Mißverständnis fing es an. Der Monsieur war sehr liebenswürdig, der Monsieur fragte nichts, der Monsieur trug ihr an, ein paar Auszüge aus alten Katalogen des Kairoer Nationalmuseums für ihn anzufertigen. Das Honorar war hinlänglich, Papier lieferte der Auftraggeber, und gedruckte Texte übertrug Shenja sogar fehlerfrei. Außer Besagtem verlangte der Monsieur nichts für eine Dame Ehrenrühriges. Der Monsieur war Engländer und leider nur auf der Durchreise in Paris, worin etwas Beängstigendes lag. Die Angst war berechtigt.
Das Abschreiben dauerte genau einen Monat. Mr. Pickering begab sich auf eine wichtige Expedition nach Mesopotamien. Alles brach zusammen. Aschgrau vernahm Shenja die Kunde. Da ergab sich, daß dem Engländer am Abend vorher sein persönlicher Sekretär den Dienst aufgesagt hatte. Dieser junge Mann hatte zwar auch vorher vergleichende Spirituosenwissenschaft betrieben, aber im letzten halben Jahr störten ihn selbst die bescheidenen dienstlichen Aufträge des Professors bei seinen Lieblingsstudien. Die Orientreise würde nicht zustande kommen und die britische Wissenschaft Schaden nehmen, ließ sich den Worten des Engländers entnehmen, falls sie, Shenja, die vakante Stelle ausschlüge. Mr. Pickering meinte, Sekretäre ohne Praxis seien ihm besonders lieb: sie fänden sich rascher in den Arbeitsstil des neuen Chefs. Zudem verlangte es den Engländer nach russischer Konversation. In alten Studententagen habe er ja die Sprache so weit
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