Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
Gefahr lief von einem Gargoyle überrascht zu werden, nahm sie sich die Zeit, alle mittelalterlichen Gegenstände und Möbelstücke zu begutachten. Eine antike Frisierkommode, die sie auf ihrer Wanderung durch die Burg in einem der Räume entdeckte, hatte es ihr dabei besonders angetan. Sie war verziert mit allerlei kunstvoll gefertigten Schnitzereien und musste bestimmt einmal der Burgherrin gehört haben– zumindest in Eviannas Fantasie.
Ziellos schlenderte Evianna herum, bis sie an eine schmale Treppe kam, die nach unten führte. Neugierig spähte sie in den niedrigen dunklen Gang. Der modrige Geruch feuchter Steine stieg ihr in die Nase, was sie nicht davon abhielt eine der Fackeln anzuzünden und dem Gang ein Stück weit zu folgen. Bereits nach wenigen Metern gelangte sie an eine Tür, die zwar ein wenig klemmte aber immerhin offen war. Evianna trat hindurch und fand sich zu ihrer Verwunderung im Kerker wieder. Das Rasseln von Ketten ließ sie innehalten. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie lauschte angestrengt, doch alles blieb still. Evianna biss in das nächste Rippchen und nahm den Weg durch die Kerker zurück. Shaytan würde sicher schon nach ihr suchen. Plötzlich rasselte nicht weit von ihr entfernt wieder etwas. Gespannt näherte Evianna sich der nächsten Zellentür. Sie war nur angelehnt; drinnen saß Satyr, an Händen und Füßen an die Wand gekettet, nur mit einer Sporthose bekleidet, doch diesmal hatte man ihn nicht geschlagen– zumindest noch nicht.
Ohne zu überlegen stieß Evianna die Tür auf und trat ein. Satyr schoss hoch und nahm sofort Angriffshaltung ein. Er sah so bösartig aus, wie ein wild gewordener Stier.
Evianna hielt genug Abstand zu ihm, so dass er sie nicht erreichen konnte– es sei denn, er schaffte es irgendwie die Ketten durchzureißen. Seinem derzeitigen Gemütszustand nach zu schließen, lag das zwar durchaus im Bereich des Machbaren, doch Evianna dachte positiv. Außerdem hatte sie nicht vor, ihn noch weiter zu reizen.
„Hallo Satyr“, sagte sie leise.
Satyr riss so heftig an seinen Ketten, dass sie ihm ins Fleisch schnitten. Er beachtete es jedoch nicht sondern setzte weiterhin alles daran, sich zu befreien. Evianna biss in ein Rippchen und zog ein Stück Fleisch von den Knochen herunter. Satyrs Blick erfasste die Rippchen. Er schnaubte. Noch einmal riss er an den Ketten doch diesmal sah es eher halbherzig aus.
Zögernd streckte Evianna den Arm aus und hielt ihm die gegrillten Rippen hin. Blitzartig riss er sie ihr aus der Hand und nagte die Knochen so sauber ab, wie ein Piranha.
„Ich kenne da jemanden, der hat behauptet, ihr stündet auf Knochen“, sagte Evianna, als die letzte Rippe zu Boden fiel.
Satyr hob kurz die Schultern.„Nur wenn sie frisch sind“, sagte er mit seiner tiefen Stimme. Er sah inzwischen ein wenig entspannter aus, was ihn jedoch nicht gesprächiger machte. Genussvoll leckte er sich die Finger ab.
Evianna setzte sich auf den Tisch, zog eine Schachtel mit Zigaretten hervor und zündete sich eine davon an. Dann warf sie die Packung Satyr zu, der es ihr gleich tat und den Rauch tief in die Lungen sog. Sie rauchten schweigend. Evianna beobachtete Satyr dabei. So viel anders als ein Mensch oder Vampir schien er gar nicht zu sein. Etwas weniger zahm vielleicht, eine Eigenschaft, die aber auch vielen der anderen Mischwesen zu Eigen war.
Evianna warf einen schrägen Seitenblick auf den Schlüssel, der neben ihr auf dem Tisch lag. Er schien genau in den Verschluss der Ketten zu passen. Satyr erriet ihre Gedanken und auf seinem hübschen Gesicht erschien ein kaum merkliches Lächeln. Nachdem Evianna die restliche Glut auf dem Boden ausgetreten hatte, ergriff sie den Schlüssel.
Satyrs Lächeln wurde breiter, was Evianna beunruhigte. Trotzdem kam sie näher, so nah, dass er sie mühelos hätte packen können. Doch er verhielt sich ruhig. Sie stand nun unmittelbar vor ihm und atmete den Duft ein, der von ihm ausging. Vage erinnerte sie dieser Geruch an etwas, so als kenne sie ihn von irgendwoher. Doch sie konnte ihn nicht zuordnen.
Da Satyr sehr groß war, war Evianna gezwungen zu ihm aufzublicken. Sie stellte fest, dass das Lächeln noch immer da war, und es war unbestreitbar abgründig. Langsam ging sie vor ihm in die Knie und öffnete die Fußfesseln.
Satyr beobachtete sie von oben herab. Sein Blick verfinsterte sich, als ihre Hand seinen Knöchel berührte, doch nur für einen kurzen Moment. Er fing sich rasch wieder und als sie aufstand
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