Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
Kerker gesperrt hatte? Falls diese beiden tatsächlich die einzigen Wächter waren, dürften sie noch immer dort unten sitzen.
Als Evianna endlich das Ende der Treppe erreicht hatte, schmerzten ihre Beine. Ungeachtet dessen lief sie den Wehrgang entlang. Durch eine der Schießscharten warf sie einen Blick nach unten und stellte erstaunt fest, wie hoch über dem Boden sie sich bereits befand. Sie erreichte einen weiteren, wesentlich höheren Turm, an den sich die hohe Westfront der Festung mit einigen Gebäuden anschloss. Evianna sah sich um doch von hier aus konnten die Gargoyles keinen anderen Weg gewählt haben. Wenig begeistert blickte sie die steile Treppe hinauf. Noch mehr Stufen. Während des beschwerlichen Aufstiegs kam ihr der Gedanke, dass es durchaus möglich war, dass die Gargoyles sich gar nicht mehr in der Burg aufhielten. Was, wenn sie nur hier ’raufgestiegen waren um sich außerhalb der dicken Steinmauern zu dematerialisieren oder wegzufliegen? Evianna ärgerte sich darüber, dass sie vergessen hatte, Shak zu fragen, wie sich diese Biester fortbewegten. Und jetzt war es dazu zu spät. Mist.
Da ihr auf dem Weg nach oben weder ein Ghul noch sonst etwas begegnete, was sie aufhielt, war sie so gut wie sicher, dass es so sein musste: die Gargoyles waren ausgeflogen. Denn kein Wesen der Nacht würde seinen Schlafplatz derart ungeschützt lassen.
Evianna trat aus dem Türbogen des Turms ins Freie. Ein frischer Wind spielte in ihrem Haar. Sie lehnte sich an die Brüstung und genoss den fantastischen Ausblick über die Stadt. In der Ferne konnte man sogar die hängenden Gärten sehen, bewaldete Stücke der Erdkruste, die sich während des Polsprungs von der Erde gelöst hatten und nun gefangen in magnetischen Feldern hoch über der Erde schwebten. Zumeist waren sie umgeben von Nebelbänken und es sah aus, als bildeten sie eine Treppe bis in den Himmel. Doch auch die unter der abgelösten Erdkruste entstandenen Senken waren sehenswert. An einigen Stellen brannte darin die Erde und ließ sich nicht löschen, an anderen Stellen waren Flachmoore und Salzseen entstanden. Alles in allem war dort eine beeindruckende Landschaft entstanden.
Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Horizont versunken und ihr orangeroter Schein versprach auch für morgen wieder einen heißen, sonnigen Tag. Unter ihr floss der Rhein träge dahin. Man konnte seinem Lauf mit bloßem Auge sogar bis weit hinter die Stadtmauer folgen. Von hier oben bot sich wirklich ein beeindruckendes Panorama.
Um über die breite Brüstung nach unten schauen zu können, musste sie in eine der Schießscharten klettern und sich weit vorbeugen. Doch der Aufwand lohnte sich, wie sie fand, denn unter ihr schlängelte sich ein winzig kleines Auto über eine unnatürlich schmale Straße. Aus dieser Perspektive wirkte alles dort unten kaum größer als Spielzeug und irgendwie irreal. Toll . Nur die riesige graue Steinfigur, die kaum drei Meter unter ihr auf einem Mauervorsprung hockte, wirkte bedrohlich real. Erschrocken fuhr Evianna zurück. Ihr Herz klopfte wild und sie zwang sich mehrmals hintereinander tief ein und auszuatmen, bevor sie einen zweiten Blick auf das Ungetüm riskierte. Es stellte einen Drachen dar, mit klauenbewährten Pranken und einem langen gezackten Schwanz. Mächtige Flügel schmiegten sich an den kräftigen Körper, das Maul mit den langen scharfen Zähnen war weit aufgerissen, so als wolle die Bestie jeden Moment Feuer speien. Evianna schüttelte sich. Etwa zehn Meter rechts von sich entdeckte sie eine weitere Figur, das überlebensgroße steinerne Abbild eines geflügelten Löwenmenschen. Sie lief auf dem Wehrgang entlang und hinter der nächsten Biegung saßen zwei weitere dämonische Untiere von außen an der Mauer auf ihren Sockeln. Evianna kam der Gedanke, dass sie vielleicht doch gefunden hatte, wonach sie suchte, auch wenn sie es selbst kaum glauben konnte. Die letzten Strahlen der Sonne tauchten die alte Burg in ein geheimnisvolles Zwielicht. Es war nicht mehr richtig hell, aber es war auch noch nicht richtig Dunkel, was bedeutete, dass Evianna noch halbwegs gut sah. Sie spähte an der glatten Wand der Festung empor und entdeckte dort oben eine weitere Statue. Ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag, würde sich in Kürze feststellen lassen, denn gleich war es soweit: die Sonne ging unter. Sie musste nichts weiter tun als warten. Entschlossen hockte sie sich in eine der Schießscharten, direkt über die steinerne Skulptur, die
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