Evil - Das Böse
ein Hengst, aber wenn du noch länger dort gelegen hättest, wärst nicht mal du an einer Lungenentzündung und … (sie zögerte) Komplikationen vorbeigekommen. Ich schau heute Nachmittag noch mal nach dir, aber es wird wohl gut gehen, wenn du heute und morgen noch im Bett bleibst.«
Sie machte sich wieder an ihrem Knoten zu schaffen und schaute ihn eine Weile lang nachdenklich und schweigend an. Dann erhob sie sich und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um.
»In Zukunft musst du ihnen gehorchen«, sagte sie.
Dann schloss sie die Tür, ohne Eriks Antwort abzuwarten.
Er schlief fast sofort ein und schlief traumlos bis zum Abend durch.
»Da!«, schrie Kranich und zeigte triumphierend auf den ersten Flussuferläufer, der mit schwirrenden Flügeln auf die Wiesen zuhielt.
Die Wiesen waren überschwemmt und die Hechte waren schon unterwegs zum Laichen. Am Vorabend hatten sie den Großen Brachvogel gesehen. Die Abendsonne glühte und von den Feldern hinter Stjärnsberg kam ein leichter Jauchegeruch.
Es war zeitig Frühling geworden und sie hatten schon eine Woche zuvor die ersten Lerchen beobachtet. Bald würden die Raubvögel sich einstellen. Wenn das Eis aufbrach, konnte man die ersten Fischadler erwarten.
Das Wasser schwappte um die Stiefel, und vor ihnen lag ein Fußmarsch von mehreren Kilometern, ehe sie die Schule wieder erreichen würden. Sie würden das Abendessen verpassen, aber das spielte keine Rolle, denn sie waren mit Kranich zusammen, und der konnte besonders guten Schülern die Erlaubnis erteilen, sich zu Zeiten, die für die Beobachtungen eben nötig waren, draußen in der Natur aufzuhalten.
Als sie die in der Nähe der Schule gelegenen Felder erreichten, wurde es schon dunkel. Aus der Ferne hörten sie einen langen traurigen Schrei.
»Auch der Kiebitz ist da«, stellte Kranich fest.
Dann erzählte er von einer Vogelart in Lateinamerika, die in den Flügelknochen noch immer die Greifklauen aufwies, die die ersten Flugechsen und ihre Nachfolger besessen hatten.
Im Verhältnis zum Rat herrschte der Status quo.
Seit der Aktion vor dem Anbau war ein Monat vergangen, aber weder Pierre noch Erik hatten irgendwelche Zusammenstöße mit Ratis erlebt, außer solchen, die als reine Routine bezeichnet werden konnten, ein paar Razzien und Durchsuchungen, bei denen nichts herausgekommen war.
Die Aktion selbst war kein Triumph für den Rat gewesen. Gerüchte wollten sogar wissen, der Rektor habe zum ersten Mal in der Geschichte der Schule hinter verschlossenen Türen den Präfekten zusammengestaucht. Es war zwar nur ein Gerücht, und Rektor und Lehrer verhielten sich so, als hätten sie nie von der Sache gehört. Trotzdem konnte das Gerücht durchaus zutreffen, denn Silverhielm ergriff lange Zeit keine neue Initiative, und der Rat widmete sich der Aufgabe, Raucher aufzuspüren, um sich Gratiszigaretten zu beschaffen (es kam nur selten vor, dass ertappte Raucher sich dafür entschieden, die Zigaretten zu zerstören, statt sie den Ratis zu überlassen).
Höken und Arne und die beiden anderen aus der Klasse, die beim Sengen assistiert hatten, wurden mehr oder weniger boykottiert. Erik und Pierre weigerten sich konsequent, mit ihnen zu reden oder zu antworten, wenn sie etwas sagten, und mehrere aus der Klasse taten es ihnen nach. Die Aktion hatte die Grenzen der Kameradenerziehung überschritten und wurde in eine Art kollektives Schuldgefühl gehüllt.
»Die haben Angst, die haben Angst, es könnte auch ihnen mal passieren«, meinte Erik.
Pierre dagegen wollte in dieser Reaktion den Beweis dafür sehen, dass es an der Schule doch ein gewisses Gefühl für Fairness gab. Klar, hätten sie Erik die ganze Nacht draußen liegen lassen, hätte nicht die Schwester Vernunft walten lassen, dann hätte Erik sterben können, aber man wisse nicht, was dann passiert wäre. Es stand keineswegs fest, ob sich so ein Fall hätte totschweigen lassen, wie es offenbar vor zehn Jahren einmal passiert war, als einem Zweifünfer bei einer Heimwehrübung ein Bajonett durch Herz und Lunge gestoßen worden war. Der Junge war ins Krankenhaus gefahren worden und nie zurückgekehrt, und in den Zeitungen hatte keine Zeile darüber gestanden.
»Kannst du mir nicht verraten, was du Silverhielm am nächsten Morgen ins Ohr geflüstert hast?«, fragte Pierre. »Ich geb dir mein Ehrenwort darauf, dass ich es nicht weitersage.«
Erik war diese Frage schon hundertmal gestellt worden. Sogar Leute vom Gymnasium hatten ihm auf die
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