Evil - Das Böse
Erik zählte die Sterne im Großen Bären und überlegte sich, dass zum Tode Verurteilte sich genauso fühlen mussten wie er jetzt. Hätte er ein Lied gewusst, das er singen konnte, dann hätte er es jetzt gesungen. Das Schlimmste war, dass er die Eisenpflöcke, an denen sie ihn festgebunden hatten, selbst in den Boden hatte schlagen müssen. Darum hatten sie ihm also den Nachmittag freigegeben (natürlich, damit er sich nicht weigerte). Irgendwo hinter Eriks Kopf stand Silverhielm, sein Lachen war deutlich zu hören.
»Na, du kleines Großmaul, du hast die Stangen sicher ordentlich in den Boden geschlagen, damit du nicht loskommst, egal, wie verzweifelt du bist.«
Doch, das war Silverhielms Stimme. Es wäre sicher das Beste, bis auf weiteres gar nichts zu sagen, jedenfalls, bis er wusste, was sie nun eigentlich vorhatten. Wollten sie wirklich das mit dem Nussknacker machen? Aber dann hätten sie ihm die Hose ausziehen müssen, ehe sie ihn als X an die Pflöcke gebunden hatten.
Am Ende trat Silverhielm so weit vor, dass Erik ihn sehen konnte, und zog langsam, natürlich demonstrativ langsam, ein Messer hervor und hielt es Erik vor die Augen.
»Na, schon Angst, du kleiner Scheißer?«, fragte Silverhielm Erik hatte keine Wahl. Egal, was sie vorhatten, sie würden es tun, egal, was er sagte.
»Vor einem kleinen Ekel wie dir kann man überhaupt keine Angst haben«, fauchte Erik. »Im Übrigen stinkst du, Scheißhelm, Scheißhelm.«
Das musste die richtige Antwort gewesen sein. Bei einem wie Silverhielm durfte man einfach nicht klein beigeben. Erik war der Letzte in Stjärnsberg, der noch nicht resigniert hatte, und irgendwo draußen in dem dunklen Publikum musste wenigstens einer sein, der hoffte, dass er es auch nicht tun würde.
»Nimm das zurück«, sagte Silverhielm und senkte das Messer so weit, dass die Spitze der Klinge Eriks Nasenflügel berührte.
Erik schwieg.
»Nimm das zurück, hab ich gesagt«, wiederholte Silverhielm und drückte das Messer fester gegen den Nasenflügel. Erik spürte, wie Blut in eines seiner Nasenlöcher lief.
»Naaaa? Lass hören, ehe wir den Judenrüssel abschneiden«, fauchte Silverhielm.
»Du bist ein Wurm und wirst für den Rest deines Lebens stinken«, sagte Erik und spürte, wie das Messer noch fester gegen seinen Nasenflügel gepresst wurde. Die Klinge schnitt jetzt bereits in den Knorpel.
Plötzlich zog Silverhielm das Messer weg und richtete sich eilig auf, ohne auch nur einmal zu schneiden.
»Und jetzt wird die Sau gesengt!«, brüllte Silverhielm.
Es kam Bewegung ins Publikum, als die Ratis Eimer mit dampfendem Wasser brachten. Hinter ihnen waren Pfiffe und Jammern zu hören. Als Erik den Kopf hob, sah er, dass die Ratis auch vier seiner Klassenkameraden herbeigeschleppt hatten.
Die Ratis hatten die vier Jungen im Schwitzkasten und bogen ihnen einen Arm auf den Rücken.
»Los, jetzt sengt die Sau!«, befahl Silverhielm.
Der Erste in der Reihe war Höken, der seinen Eimer hob und ihn mit einem Knall auf den Boden stellte, sodass ein wenig Wasser auf Eriks Kopf schwappte. Das Wasser dampfte.
»Du musst doch verrückt sein, wenn du diesen Nazis gehorchst«, sagte Erik und hob den Kopf, um irgendwo vor dem Abendhimmel Hökens Blick einzufangen.
»Sorry, old chap, aber Befehl ist Befehl«, erwiderte Höken und stöhnte vor Anstrengung, als er den Eimer über Eriks Kopf hielt.
Und dann drehte er den Eimer um. Erik sah das sozusagen in Zeitlupe, jedenfalls sah es später in seiner Erinnerung so aus, als das dampfende Wasser über den Eimerrand lief und sich dann seinem Gesicht und seiner Brust näherte.
Eine Sekunde darauf brüllte er vor Schmerz und Schock und riss wie wahnsinnig an den Lederriemen, die an den felsenfest im Boden sitzenden Eisenstangen befestigt waren.
In seinem Gehirn herrschte ein Tumult wie nach einem Blitzeinschlag in einem Rechenzentrum. Dann folgte eine plötzliche Stille, während er im Dampf die Augen zusammenkniff und vage sah, wie der Nächste seinen Eimer anbrachte. Es war Arne, der immer zu einem Scherz aufgelegte Arne, der jetzt auf seinen Auftritt wartete, und Erik hatte den Eindruck, nein, es war ganz klar, dass Arne weinte.
Erik brüllte auf, als die nächste Schmerzwelle durch seinen Körper schwappte.
Die folgenden zwei Eimer waren mit kaltem Wasser gefüllt, aber als der dritte seiner Klassenkameraden, er konnte nicht erkennen, welcher es war, das kalte Wasser über ihn goss, fühlte es sich im ersten Moment genauso an wie
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