Evil - Das Böse
(Zeigestock) »… statt eine Art verschmälerte Verlängerung des Beines darzustellen. Danke, du kannst dich wieder setzen.«
Erik setzte sich und fühlte sich dabei wie betäubt. Die anderen in der Klasse hatten nicht einmal gelacht, sie schienen diese Vorstellung ganz ernst genommen zu haben. Jetzt aber wurde es noch schlimmer.
»So, und wenn wir uns dann einen entgegengesetzten Typus ansehen wollen … Tanguy, komm doch mal nach vorn.«
Nun musste also Pierre an die Stelle treten, an der eben noch Erik gestanden hatte, und der Zeigestock begann seine Wanderung über Pierres Körper.
»Hier hätten wir für den Anfang einige charakteristische Züge des südländischen Typus. Braune, tief liegende Augen und eine schlechte Sehfähigkeit, deshalb die Brille. Die Nase ist nicht gerade, sondern kann auf unterschiedliche Weise gekrümmt sein, von der jüdischen Hakennase bis zur eher normalen südländischen Variante. Die Wangen ein wenig aufgequollen und dazu ein fliehendes Kinn.« (Zeigestock) »Dann die hängende Schulterpartie vom Flaschentypus. Für den Körper ergibt sich dadurch eine Art Kegelform, die nicht zur selben Harmonie führt, die den germanischen Typus auszeichnet. Ihr seht, wie der Bauch sich wölbt und sozusagen die Basis des Kegels bildet. Das liegt zum einen an den ungesünderen südländischen Ernährungsgewohnheiten, ist im Laufe der Zeit aber wohl auch eine erbliche Eigenschaft geworden. Folgen die Beine, die aussehen wie Streichhölzer, die man in einen Tannenzapfen gesteckt hat, so, wie wir als Kinder Spielzeugkühe gebastelt haben, hähä.« (Pierre rückte seine Brille gerade, verzog sonst jedoch keine Miene.) »Ja, und dann hätten wir noch die Füße, die Zehen sind nach innen gedreht, wir beobachten die Tendenz zum Plattfuß. Ja, vielen Dank, Tanguy, du kannst dich wieder setzen. Wir sehen also noch heute deutliche Unterschiede zwischen dem germanischen und dem südländischen Typus.«
In der Pause ging Erik verlegen zu Pierre.
»Du«, sagte er. »Du glaubst doch wohl nicht … ich meine, dieser Quatsch ist mir doch so was von egal.«
»Ach«, sagte Pierre, »erstens ist der alte Trottel Nazi, und zweitens hat er keine Ahnung, wovon er da redet. Südländischer Rassentypus, leck mich doch kreuzweise.«
»Gibt es noch mehr Lehrer von dieser Art?«
»Nein, der ist der Einzige, der noch übrig ist. Früher war es hier wohl viel schlimmer. Denk doch nur an die Fresken im Speisesaal.«
»Wie meinst du das?«
»Ja, Scheiße … große Blondinen mit dicken Titten und hochgesteckten Zöpfen, die Brotkörbe wuchten, was? Und Kerle mit weißen Haaren und Pottschnitt, die ihre Axt über der Schulter tragen, aus blauen germanischen Augen glotzen und über akkurate Schädel reden, was? Krieger mit Speeren und weißen Schnurrbärten und ›grimmigem Blickc, da bepisst man sich doch beim Hinschauen.«
»Aber die glauben das nicht mehr, die anderen Lehrer, meine ich?«
»Nein, nein, das hat sich wohl gelegt. Jetzt werden hier ja sogar Juden zugelassen, die schlimmsten Zeiten müssen vor zwanzig Jahren oder so gewesen sein. Kalle aus unserer Klasse ist übrigens Jude, aber er ist so blond wie die Typen an der Wand und hat eine mindestens so ›gerade Nase‹ wie du. Da hat der Alte wohl nicht dran gedacht. Scheißgefasel.«
Sonst waren die Stunden, verglichen mit denen an der Lehranstalt in der Stadt, angenehm entspannt. Man durfte sitzen bleiben, wenn man antwortete. Die Lehrer drohten nicht ständig mit Strafen, Einträge ins Klassenbuch schien es nicht zu geben, die Stimmung war meistens gut und fast kameradschaftlich. Alles schien ziemlich glatt und reibungslos zu laufen, niemand schlug in den Stunden Krach und es schien auch keinen besonderen Grund dafür zu geben. Die Lehrer wirkten eigentlich sympathisch. Kein einziger schien Gewalt anwenden zu wollen.
Auf dem Weg zum Essen fiel Erik auf, dass in seiner Umgebung eine seltsame Stimmung herrschte; er schien sich in einer Luftblase und auf Distanz zu allen anderen zu bewegen. Er schnappte ein paarmal die Stichwörter »neu und frech« auf und merkte, dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde.
Als die Serviererinnen nach dem Hauptgericht die Teller einsammelten, erhob sich der Ratsvorsitzende Bernhard, trat vor die Längswand und brüllte: »Aufhöööören!«
Das erwartungsvolle Gemurmel verstummte rasch.
»Der Rat tritt heute Abend unmittelbar nach dem Essen in Klassenzimmer 6 zusammen. Folgende Schüler haben sich dort einzufinden
Weitere Kostenlose Bücher