Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Müttersterblichkeit zunehmend durch kleine Familien mit niedrigerer Sterblichkeit ersetzt wurden. Diese Entwicklung fand zuerst in der Mittelschicht statt. Auslöser sei unter anderem der steigende Gebrauch von Verhütungsmitteln gewesen, die zunächst in erster Linie von gebildeten Schichten angewendet wurden. Heute seien die Effekte weitestgehend verschwunden. Dass die genannten Trends dennoch weiterhin vorhanden sind, führt Lynn darauf zurück, dass weniger intelligente Menschen weniger effektiv verhüten. Dieser Theorie schließen sich auch andere Autoren an (Kanazawa 2004; Kanazawa 2005).
Richard Lynn weist in seiner Argumentation also letztlich Gründe aus, die in erster Linie dem demographischen Übergang zugeordnet werden können. Dieser ist in den entwickelten Staaten aber mittlerweile weitestgehend abgeschlossen, und die Gesellschaften befinden sich längst im demographischen Wandel. Wie ich noch zeigen werde, kommen nun ganz andere Ursachen für die beobachteten Phänomene in Betracht.
Die von Lynn vermuteten Effekte des demographischen Übergangs dürften also in erster Linie Folgen zeitlicher Verschiebungen im Reproduktionsverhalten der verschiedenen Schichten gewesen sein, die temporär für ungünstige Entwicklungen gesorgt haben mögen (oder auch nicht: siehe den folgenden Satz), die sich aber zu einem späteren Zeitpunkt wieder weitestgehend ausgleichen konnten. Allerdings hing in der damaligen Zeit der Bildungszugang häufig noch direkt von der jeweiligen Klassen- beziehungsweise Schichtzugehörigkeit und ganz entscheidend auch vom Geschlecht ab, so dass eine festgestellte negative Korrelation zwischen Bildungsniveau und Fertilität nicht zwangsläufig das Resultat einer Verletzung evolutionstheoretischer Prinzipien sein muss, sondern auch Ausdruck des damals noch unterschiedlichen Bildungszugangs in den jeweiligen Klassen oder Schichten sein kann.
Es existieren zahlreiche alternative Modelle zur Erklärung des Geburtenrückgangs in den modernen Industrienationen, insbesondere während der Phase des demographischen Übergangs (Newson 2005: 44f.). Eine Theorie besagt zum Beispiel, dass es im Rahmen der Modernisierung zu einer drastischen Zunahme von sozialen Interaktionen komme, die zu einer Reduzierung des Anteils der Verwandtenkontakte im Vergleich zu Nichtverwandten führe. Die Nachwuchsarbeit verliere hierdurch an Bedeutung (Newson 2005). Eine solche Begründung ist nicht unplausibel, denn immerhin konnte ja in einigen Schwellenländern beobachtet werden, dass offenbar bereits das regelmäßige Schauen von Telenovelas fertilitätssenkend ist. Auch würde sich hierdurch die durchschnittlich niedrigere Fertilität in Schichten mit einem höheren sozioökonomischen Status erklären lassen, denn mit dem sozialen Erfolg steigt üblicherweise auch der Anteil der Nichtverwandteninteraktionen an der Gesamtkommunikation.
4.29.5 Die Lösung des Central Theoretical Problems
In diesem Abschnitt sollen schließlich die beiden Thesen zum
Central Theoretical Problem of Human Sociobiology
begründet werden.
Ich werde dabei aber nicht weiter untersuchen, wie es im Einzelnen zum demographischen Übergang gekommen ist, und welche gesellschaftlichen Veränderungen wann und wie welchen Einfluss auf das Fertilitätsverhalten hatten, sondern stattdessen vom Ist-Zustand ausgehen, das heißt, von modernen Gesellschaften, die sich aktuell im demographischen Wandel befinden. Und da lässt sich nun zeigen, dass hier gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen wurden, die grundsätzlich zu einem Fertilitätsverhalten führen,welches weder mit dem Prinzip der natürlichen Auslese noch mit den Grundprinzipien der Systemischen Evolutionstheorie vereinbar ist.
Ich möchte dies zunächst an einem Beispiel aus dem Tierreich erläutern.
Pfauenmännchen können sich ihre imposanten gefiederten Schweife nur deshalb leisten, weil sie im Vergleich zu den Weibchen die viel geringeren Elterninvestments aufzubringen haben.
Eine gleichzeitige Meisterschaft in beiden Bereichen (Nachwuchsarbeit, imposanter Schweif) ist aber aus energetischen Gründen nicht möglich. Wären Pfauen Hermaphroditen, dann müsste sich ein Pfau mit einem besonders großen und schönen gefiederten Schweif automatisch mit weniger Nachkommen begnügen, denn seine Energiebilanz ließe nichts anderes zu. Mit jedem zusätzlichen Investment in sein Imponierorgan reduzierte er folglich sein Reproduktionsinteresse. Würden sich die Pfauen-Hermaphroditen ganz
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