Evolution, Zivilisation und Verschwendung
denn dieses erwirtschaftet einen Nutzen von 99,375 – 25 = 74,375 Einheiten.
Obwohl ein Gruppenmitglied also nur die Hälfte geleistet hat, erzielt es mit 74,375 Einheiten einen deutlich größeren Nutzen als vorher (50 Einheiten) beziehungsweise als die anderen Gruppenmitglieder aktuell erzielen (49,375 Einheiten). Es lohnt sich also in einer Allmende, faul zu sein, sofern eine gewisse Anzahl an Mitgliedern es nicht ist. Es ist nun aber zu erwarten, dass sich immer mehr Gruppenmitglieder faul verhalten werden und der Gruppenertrag noch weiter sinken wird, denn eine typisch menschliche Handlungsmaxime ist (Schirrmacher 2006: 67):
Es geht – moralisch gesprochen – gar nicht um die Maximierung des eigenen Vorteils, sondern darum, nicht selbst in eine schlechte Position zu geraten 167 .
Die
Tragik der Allmende
schaukelt sich dann weiter hoch, und die gesamte Gruppe gerät in eine
Rationalitätenfalle
bei welcher Kollektivrationalität und Individualrationalität im Konflikt miteinander stehen.
6.5 Individualisierung
Die in der Soziologie sehr weit akzeptierte
Individualisierungsthese
besagt nun, dass sich der Einzelne in modernen Gesellschaften immer stärker aus übergeordneten Vorgaben bezüglich Geschlecht, Alter beziehungsweise sozialer oder regionaler Herkunft löst, so dass es zu einer drastischen Zunahme der individuellen Entscheidungsspielräume und einer Reduzierung des Grads der Außensteuerung kommt: Das Individuum wird zentraler Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft (Junge 2002: 7).
Individualisierung
bedeutet (Hradil 1995)
in
kultureller
Hinsicht eine zunehmende Verselbstständigung des Einzelnen gegenüber übergeordneten Sinn- und Geltungszusammenhängen, die in traditionalen Gesellschaften den Erfahrungshorizont des Einzelnen begrenzen und ihn in ein festes Gefüge der Wirklichkeitssicht und der Lebensinterpretationen einbinden;
in
sozialer
Hinsicht einen Trend zur Verselbstständigung des Einzelnen gegenüber den sozialen Gemeinschaften, die ihm früher traditionale Verhaltenserwartungen und Wirklichkeitsdeutungen in aller Verbindlichkeit vermittelten;
in
wirtschaftlicher
Hinsicht die Herausbildung einer Gesellschaft von Handelnden, die eigenständig ihren Lebensunterhalt erzielen – durch Erwerbsarbeit am Arbeitsmarkt und/oder durch gesellschaftliche Transferleistungen.
Die erste Phase der Individualisierung, die im Wesentlichen auf Männer beschränkt blieb, bezeichnet die Zeit vom Beginn des Industrialisierungsprozesses bis Mitte des 20. Jahrhunderts (Peuckert 2005: 362f.).
Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts findet ein neuer Individualisierungsschub statt, der nun auch – unterstützt durch leistungsfähige und durch die Frauen selbst kontrollierbare Empfängnisverhütungsmittel – die Frauen mit einschließt.
Auslöser war aber gemäß Ulrich Beck auch die wohlfahrtsstaatliche Nachkriegsentwicklung mit weit vorangetriebenen sozialen Sicherungssystemen, gepaart mit einem hohen materiellen Lebensstandard, der die Menschen aus ihren traditionalen Bindungen riss und sie verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktsrisiko verwies (Peuckert 2005: 363f.).
Individualisierung bewirkt nicht nur eine stärkere Abhängigkeit des Einzelnen von Leistungen Dritter und dabei zum Teil auch von (wohlfahrts)staatlichen Funktionen (Bildungseinrichtungen, innere Sicherheit, Rechtsprechung, Altersversorgung etc.) (Beck 2006: 109f.), sondern setzt diese geradezu voraus. Dies hat aber umgekehrt zur Konsequenz, dass der Wohlfahrtsstaat immer mehr Funktionen übernehmen und garantieren muss, die gemeinhin dem Kollektivverhalten zuzurechnen sind (Lange/Braun 2000: 20).
Wird dem Individuum also zugestanden, sich zeitlich möglichst vollständig auf eine am Arbeitsmarkt angeforderte Leistung zu konzentrieren und seinen individuellen Lebenslauf frei zu wählen, dann müssen bei sich einstellenden Defiziten alle anderen Leistungen, die üblicherweise Teil seiner zu erbringenden
Kollektivleistung
sind (zum Beispiel Herstellen von Sicherheit, Weitergabe von Wissen, Aufziehen von Nachwuchs, Versorgung Älterer, Unterstützung von Notleidenden) von Dritten und damit unter Umständen vom Wohlfahrtsstaat übernommen werden. Dieser wird sich dabei häufig selbst des Arbeitsmarktes bedienen, beispielsweise um dort geeignete Lehrer für das Unterrichten von Kindern zu rekrutieren.
Zusammenfassend könnte man sagen:
In traditionellen Gesellschaften hatten die Menschen neben ihren
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