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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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nach geeigneten Evolutionsreplikatoren eine sinnvolle Vorgehensweise ist, wie auch schon an anderer Stelle angemerkt wurde.
    Moderne Menschen leben heute nicht mehr in der freien Natur, sondern in erster Linie in einem kulturellen, technischen und sozialen Umfeld – ihrer primären selektiven Umwelt –, an das sie mehr oder weniger gut angepasst sind. Adaptionen an einen Lebensraum werden aber über Kompetenzen in Bezug auf den Lebensraum vermittelt. Zu diesen Kompetenzen zählt in menschlichen Gesellschaften natürlich auch die Beherrschung bestimmter Praktiken oder anderer kultureller Errungenschaften, deren Einübung zu weiten Teilen während der Sozialisation erfolgt.
    Individuen streben aufgrund ihres Selbsterhaltungsinteresses danach, ihre Kompetenzen in Bezug auf (beziehungsweise den Grad ihrer Anpassung an) ihren Lebensraum zu erhalten oder noch zu verbessern. Es dürfte deshalb einerseits zu einem ständigen vertieften Einüben von an Rollen gebundenen Praktiken kommen, andererseits aber auch zu gelegentlichen Abweichungen gegenüber den gesellschaftlichen Vorgaben. Solche Abweichungen werden sich jedoch nur dann im großen Stile durchsetzen, wenn sie für eine nennenswerte gesellschaftliche Teilgruppe von Vorteil und folglich auch mit einem entsprechend starken Durchsetzungs- oder Selbsterhaltungsinteresse unterlegt sind. Die von Runciman ausgemachten Evolutionsmechanismen lassen sich folglich auch viel einfacher, einheitlicher und plausibler erklären.
6.2 Evolutionismus und Neoevolutionismus
    Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden zahlreiche weitere theoretische Ansätze, die das Ziel verfolgten, die Evolution des Menschen, seiner Kultur und gegebenenfalls der Technik als Ganzes zu erklären, also letztlich genau das, was die Systemische Evolutionstheorie auch vorhat. Da sie zum Teil einen nichtsoziologischen beziehungsweise interdisziplinären Hintergrund haben, sollen sie an dieser Stelle gesondert aufgeführt und diskutiert werden.
    Während ältere Theorien (
Evolutionismus
) häufig noch davon ausgingen, dass sich menschliche Gesellschaften auf unterschiedlichen Stufen der sozialen Entwicklung befinden, die bei „primitiven“ Urgesellschaften beginnt, und sich dann immer mehr in Richtung „Zivilisation“ bewegt, um dann etwa bei den westlichen Gesellschaften und ihrer Kultur zu kulminieren (die soziokulturellen Evolutionstheorien von Auguste Comte, Herbert Spencer, Lewis Henry Morgan und gewissermaßen auch die von Karl Marx fallen in diese Kategorie), lehnen die meisten jüngeren Theorien (
Neoevolutionismus
) – ähnlich der Systemischen Evolutionstheorie – die Vorstellung einer zielgerichteten gesellschaftlichen Änderung oder gar eines sozialen Fortschritts ab.
    Einigkeit besteht dagegen darin, dass sich Gesellschaften in der Interaktion mit anderen Gesellschaften befinden und sich in Abhängigkeit vom Zugang zu natürlichen Ressourcen (beziehungsweise den dabei bestehenden Beschränkungen) entwickeln, das heißt, sich an äußere Rahmenbedingungen anpassen (Steward 1972).
    Gemäß Leslie White (White 2007) werden soziale Systeme sehr stark von technischen Systemen bestimmt, eine Vorstellung, die bereits Lewis Henry Morgan in ähnlicher Form geäußert hatte, und der sich zahlreiche spätere Autoren (zum Beispiel Neirynck 2006) anschlossen. Den Fortschritt einer Gesellschaft maß White an deren Energieverbrauch, wobei er fünf grundsätzliche Entwicklungsstufen unterschied: Energie aus menschlicher Muskelkraft, durch domestizierte Tiere, aus Pflanzen (Landwirtschaft), ausfossilen Brennstoffen und aus Atomkraft. Die Darstellung des Abschnittes
Leben und Energie
auf Seite → argumentiert ganz in diesem Sinne.
    Gerhard Lenski (Lenski 1973) stellt bei der Beurteilung des Entwicklungsstands einer Gesellschaft vor allem den Grad der Nutzung von Wissen und Informationen in den Vordergrund. Ähnlich wie Jablonka und Lamb (Jablonka/Lamb 2006) unterscheiden sie vier verschiedene „Vererbungssysteme“ für Informationen (Gene; Bewusstsein; Zeichen; Sprache und Schrift), die sich zum Teil erst im Laufe der Menschwerdung ausgebildet und dann sukzessive verfeinert haben.
    Aufgrund der vom klassischen Evolutionismus postulierten langfristigen Höherentwicklung menschlicher Gesellschaften und Kulturen nahmen einige Autoren an, man könne aus der menschlichen Historie Prognosen für zukünftige gesellschaftliche Weiterentwicklungen ableiten. Karl R. Popper wies einen solchen
Historizismus
jedoch mit

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