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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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spezialisiert hätten, und die ihre Besten in ferne Länder versendeten, wo sie für die Reproduktion dann aber nicht mehr zur Verfügung stünden.
    Gesellschaften müssen sich also zu erheblichen Teilen selbst reproduzieren. Sie erhalten sich nicht nur durch autopoietische Anschlusskommunikationen, sondern ganz entscheidend auch durch die eigene Nachwuchsarbeit (gesellschaftliche Reproduktion). Dies erklärt, warum die Sozialwissenschaften ein biologisches Fundament benötigen, und sie Menschen nicht einfach zur Umwelt des sozialen Systems Gesellschaft deklarieren können.
    Niklas Luhmann grenzt Gesellschaften gegenüber Organisationssystemen wie folgt ab (Luhmann 1987: 555):
    Es muss in der Soziologie einen Begriff geben für die Einheit der Gesamtheit des Sozialen – ob man dies nun (je nach Theoriepräferenz) als Gesamtheit der sozialen Beziehungen, Prozesse, Handlungen oder Kommunikationen bezeichnet. Wir setzen hierfür den Begriff der Gesellschaft ein. Gesellschaft ist danach das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt. Wenn etwas Soziales hinzukommt, wenn neuartige Kommunikationspartner oder Kommunikationsthemen auftauchen, wächst die Gesellschaft mit ihnen. Sie wachsen der Gesellschaft an. Sie können nicht externalisiert, nicht als Sache ihrer Umwelt behandelt werden, denn alles was Kommunikation ist,ist Gesellschaft. Gesellschaft ist das einzige Sozialsystem bei dem dieser besondere Sachverhalt auftritt.
    Und weiter (Luhmann 1987: 557):
    Selbstverständlich bleibt die Gesellschaft trotz, ja dank ihrer Selbstgeschlossenheit System in einer Umwelt. Sie ist ein System mit Grenzen. Diese Grenzen sind durch die Gesellschaft selbst konstituiert. Sie trennen Kommunikation von allen nichtkommunikativen Sachverhalten und Ereignissen, sind also weder territorial noch an Personengruppen fixierbar. In dem Maße, als dieses Prinzip der selbstkonstituierten Grenzen sich klärt, differenziert die Gesellschaft sich aus. Ihre Grenzen werden von Naturmerkmalen wie Abstammung, Bergen, Meeren unabhängig, und als Resultat von Evolution gibt es dann schließlich nur noch eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft, die alle Kommunikationen und nichts anderes in sich einschließt und dadurch völlig eindeutige Grenzen hat.
    Wenn Gesellschaft – wie Luhmann behauptet – ein soziales System ist, sich soziale Systeme nur aus Kommunikation zusammensetzen, und „
alles, was Kommunikation ist, Gesellschaft ist
“, dann kann es in der heutigen Zeit tatsächlich nur eine Gesellschaft geben, nämlich die
Weltgesellschaft
.
    Mit einem solchen Gesellschaftsbegriff befindet sich Luhmann allerdings weit außerhalb des üblichen Sprachgebrauchs, der ja Sätze wie „die Gesellschaft ist an allem schuld“, „Einwanderer bereichern die amerikanische Gesellschaft“ oder „Kleinkindbetreuung ist ein wichtiges gesellschaftliches Problem“ kennt 52 .
    Abweichend zu – und doch auch anlehnend an – Niklas Luhmann möchte ich deshalb definieren:
    Eine Gesellschaft ist ein soziales System, welches alles Soziale umfasst. Sie besitzt einen Namen und eine Identität und endet dort, wo das Soziale endet, das heißt, an den Grenzen des Sozialstaates. Eine ihrer zentralen Aufgaben ist die gesellschaftliche Reproduktion.
    In meinem Buch
Hurra, wir werden Unterschicht!
(Mersch 2007a) wurde gezeigt, dass es im Rahmen der Globalisierung zu einer verstärkten Standortkonkurrenz unter Territorialstaaten bezüglich gesellschaftlich angebotenen Ressourcen und Kompetenzen kommt (siehe dazu auch die Ausführungen im Abschnitt
Globalisierung
auf Seite → ). Als die wichtigste vermarktbare Ressource rohstoffarmer Länder konnte das Humanvermögen, das heißt, die Kompetenzen der Bürger einer Gesellschaft ausgemacht werden.
    Wendet man die im nächsten Kapitel erläuterte Systemische Evolutionstheorie auf diesen Sachverhalt an, dann lässt sich kurz und bündig feststellen: Gesellschaften evolvieren wie alle anderen sozialen und biologischen Systeme durch regelmäßige Reproduktion ihrer Kompetenzen (sofern sie ein ausreichendes Reproduktionsinteresse besitzen). Die Kompetenzen von Gesellschaften drücken sich aber ganz wesentlich in den Kompetenzen ihrer Bürger aus, denn das sind schließlich die „Produkte“, die Staaten anderen sozialen Systemen auf ihrem Hoheitsgebiet anbieten. Die – nun auch streng systemtheoretisch ableitbare – Konsequenz daraus ist: Die wichtigste Aufgabe

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