Evolution, Zivilisation und Verschwendung
einer Gesellschaft ist die regelmäßige Erneuerung der Kompetenzen ihrer Bürger, das heißt, ihres Humanvermögens. Bildung ist dafür ein ganz entscheidender Faktor. Wie noch gezeigt wird, reicht diese als alleinige Maßnahme aber bei weitem nicht aus.
Wir können zusammenfassend feststellen:
Organisationssysteme (zum Beispiel Unternehmen) besitzen eine Identität und ein eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse. Sie müssen und wollen sich fortlaufend erneuern. Die Reproduktion gliedert sich in eine innere Erneuerung (Verjüngung der Mitarbeiter, Verbesserung der Abläufe, Modernisierung, analog der Zellerneuerung bei Lebewesen:
Strukturerhaltung
) und die Erhaltung beziehungsweise Verbesserung der Kompetenzen (
Adaption
). Wie im Abschnitt
Technische Evolution
auf Seite → noch gezeigt wird, setzen sich die Kompetenzen von Organisationen ganz entscheidend aus deren Produkten und Dienstleistungen zusammen. Leistungsfähige Organisationssysteme achten meist sehr genau auf deren regelmäßige und langfristige Erneuerung. Die Reproduktion (insbesondere Forschung & Entwicklung) gehört in solchen Fällen zu den entscheidenden Kernprozessen der Organisation.
Mitarbeiter rekrutiert die Organisation aus der Gesellschaft. Auch wird älteres oder nicht mehr benötigtes Personal wieder an die Gesellschaft „zur weiteren Verwendung“ zurückgegeben. Organisationen „produzieren“ die von ihnen benötigten Mitarbeiter (Humanressourcen) also nicht selbst, sondern sie nutzen dafür die Potenziale und Dienstleistungen der Gesellschaft.
Menschliche Gesellschaften besitzen ebenfalls eine Identität und auch ein rudimentäres eigenständiges Selbsterhaltungsinteresse. Im Prinzip müssen sie sich fortlaufend erneuern, wenn sie auch in Zukunft Bestand haben wollen. Bei ihren Kompetenzen handelt es sich in erster Linie um die Kompetenzen ihrer Bürger, die regelmäßig reproduziert werden müssen. Dazu dienen vor allem die Fortpflanzungs- und Sozialisationsfunktion der Familie und die verschiedenen Bildungsprozesse. Alternativ und additiv können auch Zuwanderer in die Gesellschaft hineingeholt und dann integriert werden. Anders als bei den anderen sozialen Systemen gehört zur Gesellschaft folglich auch die biologische Reproduktionsfunktion. Diese stellt sogar regelrecht eine Kernfunktion der Gesellschaft dar. Da diese aber zurzeit nicht als solche wahrgenommen und ausgeübt wird (siehe dazu die Ausführungen im Kapitel
Demographischer Wandel
auf Seite → ), können menschliche Gesellschaften üblicherweise noch nicht wirklich als langfristig selbsterhaltend bezeichnet werden.
Man könnte deshalb auch sagen: Gesellschaften unterscheiden sich von anderen sozialen Systemen im Grad ihrer Autopoiesis und Selbsterhaltung. Organisationen sind meist stärker auf ihren langfristigen Selbsterhalt ausgerichtet, Gesellschaften dagegen mehr auf die Autopoiesis.
In der folgenden Tabelle wird die gesellschaftliche Reproduktion Deutschlands mit dem Reproduktionsprozess (Forschung & Entwicklung) eines Pharmakonzerns verglichen. Dabei offenbaren sich gravierende Unterschiede, und zwar insbesondere bei der Organisation, Finanzierung und beim Systemtyp. Die zeitliche Ausrichtung beider Prozesse ist zwar durchaus vergleichbar, allerdings ist die Forschung & Entwicklung im Pharmakonzern auf die langfristige Selbsterhaltung des Unternehmens ausgelegt, die gesellschaftliche Reproduktion Deutschlands dagegen nicht, da bereits die dafür erforderliche übergeordnete Systemkoordination fehlt. Anders gesagt: Der Pharmakonzern plant, steuert und finanziert seine Produkterneuerung als zentralen unternehmerischen Kernprozess für die nächsten zwanzig Jahre, während die Gesellschaft diese Aufgabe weitestgehend der privaten Initiative ihrer Bürger überlässt.
Pharmakonzern
Deutschland
Name
Forschung & Entwicklung
Familie + Schule
Organisation
Marktwirtschaft
Sozialistisch
Finanzierung
Durch Produktion
Privat
Produkte
Medikamente
Humankapital
Zeitspanne
12-20 Jahre
18-25 Jahre
Systemtyp
Langfristig selbsterhaltend
Kurzfristig selbsterhaltend
3.7 Ausdifferenzierung
Im Abschnitt
Systemische Evolutionstheorie
auf Seite → wird gezeigt, dass evolutionäre Prozesse maßgeblich durch die Reproduktionsinteressen der Beteiligten angetrieben werden. Bei sozialen Systemen (zum Beispiel Unternehmen) können aber die Begriffe Reproduktionsinteresse und Selbsterhaltungsinteresse synonym verwendet werden: sie meinen im Wesentlichen das Gleiche (siehe
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