Evolution, Zivilisation und Verschwendung
darin in der Tat nicht vor. Entsprechend handelt es sich bei sozialen Ungleichbehandlungen von Rassen auch stets um Rassismus und nicht um Sozialdarwinismus.
Und auch der dritte Punkt ist schnell abgetan. Mit moralischen Zielvorstellungen hat die Evolutionstheorie absolut nichts zu tun. Es verbleibt also lediglich der zweite Punkt, mit dem sich der Abschnitt
Central theoretical problem of human sociobiology
auf Seite → noch eingehend beschäftigen wird.
Man kann aus der obigen Sozialdarwinismus-Definition des Brockhaus aber auch noch etwas anderes erkennen: Hier geht es in erster Linie um den
Kampf ums Dasein
, der zwar auch in den ursprünglichen Darwinschen Formulierungen eine Rolle spielt, für die Evolutionstheorie jedoch tatsächlich nur eine untergeordnete Bedeutung hat, denn sie kommt bereits mit einfacher Konkurrenz aus. Diese weit verbreitete Fehlannahme hat dann zu manchen späteren verhängnisvollen Deutungen und Entwicklungen geführt.
Allerdings ist der Kampf ums Überleben noch immer integraler Bestandteil vieler aktueller Formulierungen des Selektionsprinzips (Mayr 2005: 149):
Jede Spezies bringt weitaus mehr Nachkommen hervor, als von einer Generation zur nächsten überleben können. Alle Individuen einer Population unterscheiden sich genetisch voneinander. Sie sind den Widrigkeiten der Umwelt ausgesetzt, und fast alle gehen zu Grunde oder pflanzen sich zumindest nicht fort. Nur wenige – im Durchschnitt zwei Individuen je Elternpaar – überleben und bringen ihrerseits Nachkommen hervor. Diese Überlebenden sind aber keine Zufallsstichprobe aus der Population: Dass sie weiterleben können, haben sie zum Teil bestimmten Eigenschaften zu verdanken, die das Überleben begünstigen.
Ein so begründetes
Prinzip der natürlichen Auslese
kann leicht zu Missverständnissen führen, die jedoch nicht sein müssten. Ich werde im Laufe desBuches nämlich zeigen, dass sowohl getrenntgeschlechtliche als auch „nichtbiologische“ Populationen (zum Beispiel Hersteller von Mobiltelefonen) vollkommen eigendynamisch evolvieren können, und zwar ohne dabei mehr Nachwuchs hervorbringen zu müssen als anschließend überleben kann. Ursächlich dafür sind bestimmte Systemeigenschaften von Lebewesen. Und in der Tat könnten sich menschliche Gesellschaften selbst mit einer Fertilitätsrate von weniger als 2,1 evolutiv weiterentwickeln. Wie das gehen kann, werde ich noch erläutern.
Darwin kam auf die Idee der
natürlichen Selektion im Rahmen eines Daseinskampfes
bei der Lektüre von Malthus’ „
Essay on the Principles of Population
“, in welchem dieser behauptete, Bevölkerungszahlen entwickelten sich in geometrischer Progression (auf Basis der gleichen Fertilitätsraten), während die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer Progression wachsen könne. Malthus folgerte, das im Zeitalter der Industrialisierung sehr ausgeprägte Bevölkerungswachstum müsse zwangsläufig mit einer zunehmenden Verelendung einhergehen, weswegen er Enthaltsamkeit zur Verringerung des Bevölkerungswachstums forderte. Er gilt damit als Begründer der Geburtenkontrolle 62 .
Bei genauer Betrachtung enthalten die Darwinschen Formulierungen des Selektionsprinzips sehr viel von Malthus’ Verelendungstheorie 63 . In diesem Sinne könnte die Darwinsche Evolutionstheorie auch als ein theoretisches Konstrukt ihrer Zeit aufgefasst werden 64 . Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass Charles Darwin nur wenige Jahre später mit der sexuellen Selektion einen viel wirkungsvolleren Evolutionsmechanismus entdeckte, der gleichzeitig ganz ohne einen
Kampf ums Dasein
beziehungsweise ein
Struggle for Life
auskommt.
Möglicherweise ist der Bezug zur Malthus’schen Verelendungstheorie auch der Grund, weshalb es im Rahmen der Anwendung der Evolutionstheorie auf menschliche Gesellschaften immer wieder zu Irritationen gekommen ist und weiterhin kommt. Ich werde deshalb das Evolutionsprinzip ein wenig umformulieren, oder genauer: auf eine solide Basis stellen. Denn warum sollte man Evolution immer nur aus Sicht der Biologen beschreiben, wenn in menschlichen Gesellschaften ganz offenkundig Bedingungen vorherrschen, die in der restlichen Natur nicht anzutreffen sind (Familienplanung, Wohlfahrtsstaat, Technologien, Organisationssysteme etc.), und die die Sache zusätzlich komplizieren? Es könnte dann nämlich vielmehr Sinn machen, die allgemeinen Evolutionsprinzipien hinter den sozialen und technologischen Entwicklungen
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