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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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Computerhardware entspricht der biologischen Evolution, die der Software der kulturellen Evolution beim Menschen.
    Denn nehmen wir einmal an, Sie erhielten eine PDF-Datei, die Ihr Computer jedoch nicht verarbeiten kann. Vermutlich werden Sie sofort den Adobe Reader installieren, und vielleicht können Sie die Datei dann wenige Minuten später doch noch lesen. Im Prinzip ist der Vorgang mit dem Lernen beim Menschen vergleichbar: Sie sollen beispielsweise beruflich für eine längere Zeit nach Paris gehen, weshalb Sie vorbereitend einen Fremdsprachenkurs belegen. Schon bald können Sie die ersten Dialoge in Französisch führen, das heißt, Sie haben dazugelernt, und zwar ganz ähnlich wie Ihr Computer bezüglich der Verarbeitung von PDF-Dokumenten.
    In beiden Fällen handelt es sich um Adaptionen an den Lebensraum, die aber noch zu Ihren Lebzeiten beziehungsweise die Ihres Computers erfolgen. Wenn Sie die französische Sprache hinreichend beherrschen, könnten Sie ohne weiteres in Frankreich leben und arbeiten. Sie wären dann ausreichend an den neuen Lebensraum angepasst. Ähnlich ergeht es Ihrem Computer: Nach Installation des Adobe Readers kann dieser PDF-Dokumente verarbeiten, ist also besser an sein Milieu angepasst. Oder anders gesagt: Sowohl Sie als auch Ihr Computer besitzen nach Abschluss der jeweiligen Lernprogramme mehr
Kompetenzen
in Bezug auf den jeweiligen Lebensraum.
    Doch wie sähe es aus, wenn in modernen menschlichen Gesellschaften jeder Mensch nicht nur lesen und schreiben können, sondern auch noch die Allgemeine Relativitätstheorie vollständig beherrschen müsste? Oder wenn Sie auf Ihrem bereits in die Jahre gekommenen Computer nun eine komplexe Multimedia-Anwendung – zum Beispiel ein modernes HochleistungsGame – ausführen wollten? Könnte dies noch immer wie oben beschrieben mittels eines einfachen Lernvorgangs bewältigt werden?
    Die Antwort darauf lautet: Nein.
    Wenn Sie die Allgemeine Relativitätstheorie verstehen wollen, müssen Sie einen IQ einer bestimmten Größenordnung besitzen, und der basiert zu erheblichen Anteilen (Schätzungen gehen von 50 Prozent und mehr aus) auf Ihrer genetischen Ausstattung, das heißt, Sie müssen eine ausreichend leistungsfähige „Hardware“ in die Wiege gelegt bekommen haben.
    Und ganz entsprechend: Wenn Sie auf Ihrem Computer moderne Hochleistungs-Games ausführen wollen, dann benötigt dieser den dazu erforderlichen Prozessor und viele zusätzliche Hardware-Features ebenso.
    Moderne Software ist nur deshalb so leistungsfähig und reich an Funktionen, weil es die dazu passende, sie unterstützende Hardware gibt. Und moderne Kulturen sind nur deshalb so weit entwickelt, weil sie von intelligenten Menschen getragen werden, deren IQ möglicherweise durch Bildung und Schulung angehoben wurde, ganz wesentlich aber auch auf genetischen Faktoren beruht (Mersch 2007c: 57ff.).
    In der Biologie wird häufig der Ausdruck
Vererbung
statt
Reproduktion
verwendet. Dies könnte suggerieren, die Weitergabe von Merkmalen und Kompetenzen an die nächste Generation erfolge ausschließlich über Gene. Beim Menschen ist das aber keineswegs der Fall, denn hier spielen sowohl genetisch vermittelte Kompetenzen, als auch solche, die über Imitation, Erziehung und Bildung vermittelt werden, eine tragende Rolle. Gemäß der in der Biologie allgemein akzeptierten Weismann-Barriere fließen Erfahrungen, die ein Individuum mit der Umwelt macht, nicht in den Erbgang ein. Damit wären über die Fortpflanzung nur begrenzte Adaptionen an den jeweiligen Lebensraum möglich. Beim Menschen setzt nun aber zusätzlich eine zweite Reproduktion (Replikation) ein, die in der Lage ist, auch alle erworbenen Kompetenzen der vorangegangenen Generationen an die nächste weiterzugeben (siehe dazu auch die Abschnitte
Kultur
auf Seite → und
Vererbungssysteme und Replikatoren
auf Seite → ). Während die Gene ausschließlich von den leiblichen Eltern stammen, beruht ein Großteil dererworbenen Kompetenzen auch auf dem Lebenserfolg anderer (gegebenenfalls aller bisherigen Menschen).
    Bei der biologischen und kulturellen Evolution handelt es sich folglich nicht um unabhängige und auf getrennten Mechanismen (Gene versus Meme) beruhende Entwicklungen, sondern um einen gemeinsamen Prozess zur Erhaltung oder gar Verbesserung der Adaption von Individuen und Populationen an ihren jeweiligen Lebensraum. Erlernbare Kompetenzen werden durch Imitation und Vermittlung weitergegeben, andere Kompetenzen

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