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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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dagegen ausschließlich über die Fortpflanzung (Gene).
    Dies gilt umso mehr, als sich moderne Menschen – anders als etwa Tiere – vorwiegend in einer von ihnen selbst geschaffenen künstlichen Umgebung bewegen. Tierische Populationen verändern ihre Umwelt zwar auch, doch nicht in dem Ausmaße, wie dies menschliche Gesellschaften tun, die ihr eigenes Milieu weitestgehend selbst gestalten, was zu beschleunigten Selbstläuferprozessen führen kann. Auch sind dann viele, vormals besonders wichtige Kompetenzen nicht länger von Bedeutung 66 . Beispielsweise muss in modernen menschlichen Gesellschaften niemand mehr schnell und ausdauernd rennen können, da alle längeren Strecken viel effizienter mit dem Auto zurückgelegt werden können. Folglich sind schwächliche Beine auch kein Ausschlussgrund für sozialen und reproduktiven Erfolg mehr 67 .
    Eine begrenzte Evolution in der Informationstechnologie wäre selbst dann möglich, wenn die Hardwareentwicklung eingefroren und nur noch die Softwareseite voranschreiten würde. Die Softwareentwickler müssten dann eben versuchen, die nun immer gleiche Hardware besser zu nutzen. In ähnlicher Weise könnte sich die Menschheit im begrenzten Umfang selbst dann an sich verändernde Rahmenbedingungen anpassen, wenn sie sich zwar genetisch nicht mehr entwickelte, dafür aber das gesammelte Wissen immer weiter zunähme 68 . Wenn weite Teile der Sozialwissenschaften behaupten,alle Menschen würden sich von Natur aus genetisch so sehr ähneln, dass alle noch eventuell vorhandenen genetischen Unterschiede durch Bildungsmaßnahmen wieder ausgeglichen werden könnten, dann spekulieren sie insgeheim auf einen solchen Mechanismus 69 .
    Leider ist dieser so nicht existent, was allein schon der hohe genetische Anteil an dem in modernen Gesellschaften so wichtigen „Merkmal“ IQ (Intelligenzquotient) zeigt (Mersch 2007c: 57 ff.). Und auch in anderer Hinsicht entstehen hierbei Widersprüche. Beispielsweise behauptet eine Mehrheit der Neurologen, bei Migräne handele es sich in erster Linie um eine genetisch bedingte Erkrankung, die aus diesem Grunde dann auch unheilbar sei, so dass Betroffene gegebenenfalls ihr Leben lang verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen müssen (Mersch 2006c). Kurz: Geht es um menschliche Kompetenzen, so sind diese angeblich in keinem Fall einzigartig, sondern können allesamt erlernt und damit erworben werden, geht es dagegen um Krankheiten, so sind die Menschen wiederum alle verschieden und müssen in der Folge dann auch individuell behandelt werden. Ein „Verlernen“ einer Erkrankung wie Migräne wäre aufgrund der angeblichen genetischen Einzigartigkeit der Menschen somit prinzipiell nicht möglich. Diese doch sehr unterschiedliche Bewertung der gleichen Sachverhalte legt den Schluss nahe, die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen legten diese gerade so aus, wie sie ihnen optimal ins (ökonomische) Konzept passen.
    Wir halten also fest: In der Natur findet – ähnlich wie in der Informationstechnologie – eine doppelte Evolution statt (Vollmer 1994: 84): Einerseits eine biologische auf Basis der Gene, bei der die Erfahrungen der Individuenmit ihrem Lebensraum keinen Eingang finden, und andererseits eine kulturelle, die durch Imitation und Wissensvermittlung vorangetrieben wird, und die gegebenenfalls – wie beim Menschen – das gesamte Wissen aller bisherigen Individuen nutzt. Als Statuserhaltungssysteme dienen bei letzterer die Gehirne der einzelnen Individuen, beziehungsweise in menschlichen Gesellschaften auch alle sonstigen Speichermedien, wie zum Beispiel Bibliotheken, Datenbanken oder das Internet. Keine der beiden Evolutionen kann isoliert für sich betrachtet werden. Zwischen biologischen und kulturellen Vorgängen besteht stets eine Rückkopplung (Dobzhansky 1965: 34).
    In diesem Zusammenhang sind auch die Begriffe
Phänotyp
und
Genotyp
von Bedeutung:
Phänotyp : Die Gesamtheit aller erworbenen und ererbten Merkmale eines Individuums (sein äußeres Erscheinungsbild). Zum Phänotyp eines Menschen gehören auch dessen IQ und Bildung. Die erworbenen Eigenschaften werden nicht weitervererbt, der Genotyp wird dadurch also nicht beeinflusst.
Genotyp : Der vollständige Satz von Genen, den ein Individuum geerbt hat. Im Grunde handelt es sich dabei um das Genom des Individuums.
    Gegenstand einer „Selektion“ im Sinne der klassischen Evolutionstheorie kann eigentlich nur der Phänotyp sein, denn es ist ja dieser, der mehr oder weniger an sein

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