Evolution, Zivilisation und Verschwendung
die „nur“ (oder weniger als) fünfhundert bis tausend Millionen Jahre in Anspruch nahm. Der Weg aus der Sackgasse bedurfte eines neuen Organisationsprinzips, eines Prinzips, das einen horizontalen Genaustausch möglich machte: genetische Rekombination und Transposition von Genen. Genetische Rekombination ist die Grundlage der sexuellen Vererbung.
Allerdings kam mit der genetischen Rekombination und der sexuellen Fortpflanzung auch der Tod (Eigen 1987: 112f.):
Die wichtigste Konsequenz dieser neuen Art von Fortpflanzung ist – abgesehen von der großen Variabilität – die Verlagerung der Angriffsfläche der Evolution von der einzelnen Zelllinie auf die gesamte Population, deren Gen-Fundus auf diese Weise jede Veränderung unmittelbar aufnimmt. Die Gene sind damit de facto wieder von ihrer Zentralherrschaft des Genoms befreit. Ein selektiver Vorteil kann sich zum einen rasch horizontal über die gesamte Population ausbreiten, und zum anderen wird die Angriffsfläche für jede Mutation, die jetzt nur in einem beliebigen – der vielen miteinander kommunizierenden – Individuen einer Population zu erfolgen braucht, stark vergrößert. Indes dieser Fortschritt hatte seinen Preis. Die Einprogrammierung des Todes wurde unumgänglich, oder treffender formuliert: Das Altern und Sterben des Individuums stellte sich als derart vorteilhaft für die Entwicklung der Art heraus, dass sie im evolutiven Prozess unausweichlich war. Bei Organismen mit vegetativer Zellteilung gibt es kein Altern des Individuums. Es ist nicht zu entscheiden, welche der beiden Zellen nach der Teilung die Tochterzelle und welche die Mutterzelle ist. So gibt es auf dieser Ebene bloß den Unfalltod. Das heißt, die vegetativ sich fortpflanzende Zelle ist im Prinzip unsterblich. Bei Organismen mit geschlechtlicher Vermehrung hingegen sind die Nachkommen eindeutig definiert. Hier ist es vorteilhaft, dass das Individuum, das seinen Beitrag für die Evolution geleistet hat, stirbt. Tod bedeutet neues Leben für die Art.
Die Begründung der Vorteilhaftigkeit der sexuellen Fortpflanzung über die genetische Rekombination erklärt für sich allein aber noch nicht, warum sich bei höheren Tierarten keine Hermaphroditenpopulationen – das heißt, Populationen aus zweigeschlechtlichen Lebewesen (Zwittern), bei denen sich jedes Individuum mit jedem anderen aus der gleichen Population paaren kann – durchgesetzt haben. Ein nicht gebärfähiges Männchen stellt ja zunächst einen enormen Kostenfaktor dar, da stets doppelt so viele Individuen „produziert“ werden müssen, wie eigentlich erforderlich wären, und diese Männchen den Weibchen dann auch noch Nahrung und Lebensraum streitigmachen. Einhundert Hermaphroditen könnten genauso viele Nachkommen erzeugen, wie eine aus jeweils 100 Männchen und Weibchen bestehende Population. Auch würde sich in diesem Fall die Partnersuche deutlich vereinfachen, denn die Männchen müssten ja nicht länger exklusiv nach passenden Weibchen Ausschau halten, sondern jedes beliebige andere fortpflanzungsfähige Individuum täte es auch.
Ein entscheidender Vorteil der sexuellen Fortpflanzung scheint in der sogenannten
sexuellen Selektion
zu bestehen (Miller 2001: 128), die zunächst erläutert werden soll. Denn auf diese Weise implementiert die Natur so etwas wie einen Markt mit künstlicher Verknappung der Nachfrageseite (Angebotsmarkt), wodurch selbst bei eher niedrigem Selektionsdruck erheblich beschleunigte Evolutionsprozesse entstehen können.
Viele der in diesem und den nächsten Abschnitten herausgearbeiteten Vorund Nachteile der sexuellen Fortpflanzung werden im späteren Abschnitt
Wozu gibt es Sexualität?
auf Seite → noch einmal zusammengefasst.
4.12 Sexuelle Selektion
Mit
Elterninvestment
wird in der Soziobiologie (bzw. in der evolutionären Psychologie) die Gesamtheit der Maßnahmen bezeichnet, die Lebewesen ergreifen, um Nachkommen zu zeugen und sie für das Leben und ihre spätere eigene Fortpflanzung vorzubereiten und fit zu machen. Dabei werden
Brutpflege
(= Gesamtheit der Verhaltensweisen, die Lebewesen bei der Aufzucht ihrer Jungen entwickeln) und
Brutfürsorge
(= alle Verhaltensweisen von Elterntieren, die ihrem Nachwuchs im Voraus günstige Entwicklungsmöglichkeiten bieten) unterschieden (Wuketits 2002b: 42f.).
Sexualpartner, die den höheren elterlichen Aufwand treiben, stellen im Allgemeinen für das andere Geschlecht die knappere Ressource dar. Das Konzept des Elterninvestments ist deshalb in
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