Evolution, Zivilisation und Verschwendung
irgendein Leser ein paar gelungene Bausteine Ihres Romans aufgreifen und in einem eigenen Roman leicht verändert verwenden? Oder werden einzelne Leser Ihre Story weitererzählen, und deren Zuhörer dann auch, so dass man sie schon bald darauf in Shanghai kennt, natürlich nun mit chinesischen Hauptakteuren? Wohl kaum.
Viel wahrscheinlicher dürfte dagegen das folgende Szenario sein: Sie werden ein paar Romane anderer Autoren lesen und dann darüber nachdenken, was sie beim nächsten Mal besser machen könnten. Sollten Sie vielleicht eine ganz romantische Liebesgeschichte integrieren oder gar ein paar sehr explizite Sexszenen? Sie wissen doch: Sex sells. Oder wollen Sie eher weiter an Ihrem Erzählstil feilen und auch ein wenig mehr Spannung in die Geschichte bringen?
Möglicherweise fragen Sie sich bereits, wie denn in diesem Falle der im „Prinzip Reproduktion“ der
Systemischen Evolutionstheorie
erwähnte Reproduktionsprozess aussehen könnte. Nun, ich habe ihn gerade beschrieben: Der Autor liest ein paar Bücher anderer Autoren, macht sich Notizen, überlegt, ob er in Zukunft etwas mehr Liebe, Sex oder Spannung in seine Bücher integrieren soll, führt Gespräche mit Freunden, hat ein paar unglückliche Affären und dann vielleicht auch mal die Idee zu einem neuen Plot. Anders gesagt: Er versucht, sich und seine Kompetenzen zu reproduzieren, das heißt, beim nächsten Mal besser zu sein. Und wenn er Erfolg hat, dann werden ihm andere folgen, so wie er es ja auch einmal getan hat. Die Reproduktion neuer Künstler ist folglich gesichert (Variationserneuerung: siehe Abschnitt
Selbsterhaltende Systeme
auf Seite → ).
Wie wir gesehen haben, ist Innovation weniger das Resultat fortlaufender Imitationen beziehungsweise Replikationen in Verbindung mit kleineren Mutationen, sondern des unbedingten Willens, gefallen zu wollen, das heißt, selektiert zu werden. Evolution ist vor allem das Ergebnis konkurrierender Selektionsinteressen und der sich dahinter verbergenden Selbsterhaltungsund Reproduktionsinteressen. Natürlich findet gleichzeitig auch eine Weiterentwicklung auf der Empfängerseite beziehungsweise der „primären selektiven Umwelt“ (Milieu) statt, weil sich dort nun möglicherweise die Präferenzen ändern. Aber diese Entwicklung dürfte vergleichsweise nachgelagertsein.
Ich möchte nicht ausschließen, dass sich Verhaltensweisen, Melodien, Märchen, Moden etc. im Einzelfall von Person zu Person ausbreiten und dabei jeweils kleine Modifikationen erfahren. Aber das von Dawkins erwähnte Lappenstar-Beispiel ist ja für unseren Fall schon allein deshalb wenig relevant, weil die Männchen dieser Vogelart bei ihrem Gesang ein ausgesprochenes Selektions- und damit Mitteilungsinteresse – als Ausdruck eines Reproduktionsinteresses – haben, welches geradezu zu Imitationen ermuntert 117 . Das Lesen eines Buches führt dagegen üblicherweise nicht zum lautstarken Rezitieren des Textes in der Öffentlichkeit.
Hinzu kommt, dass viele Entwicklungen in unserer Gesellschaft maßgeblich durch sogenannte Multiplikatoren 118 , Meinungsmacher und Interessengruppen geprägt und gesteuert werden, die in der Regel ein ganz eigenständiges Selektions- beziehungsweise Selbsterhaltungsinteresse besitzen, und die meist von gewichtigen sozialen Systemen getragen werden (siehe dazu den Abschnitt
Soziale Evolution (Sozialer Wandel)
auf Seite → ). Beispielsweise dürfte Ihr Verleger primär das Interesse „Verkaufen“ haben, welches sich von Ihrem Autorenanliegen in vielen Aspekten unterscheiden wird, und zwar selbst dann, wenn er Sie bereits lautstark überall als den neuen Günter Grass vermarkten sollte.
Wir können das bislang Gesagte wie folgt zusammenfassen:
Eine kulturelle Weiterentwicklung findet weniger durch Imitationen mit darauffolgenden leichten Modifikationen auf der Empfängerseite statt, sondern in erster Linie durch konkurrierende Selektionsinteressen (und den dahinter stehenden Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen) auf der Erzeugerseite 119 .
Die christliche Kirche hat die gerade beschriebenen Mechanismen schon immer verstanden, weswegen die Mission, das heißt, die Verbreitung des Glaubens aus dem eigenen Selbsterhaltungsinteresse heraus, von Anbeginn an zu ihren charakteristischen Merkmalen zählte (Mt 28,18-20):
Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des
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