Evolution
Blut. Der Kopf schmerzte noch
vom Schlag, den der Pithecine ihr mit dem Stein versetzt hatte, und
Brust und Rücken waren eine einzige Quetschung. Und nun drohten
auch der Schock und die Verwirrung wegen des Verlusts ihrer Mutter
und der kleinen Gruppe von Menschen, die für sie die Welt
bedeutet hatten, sie zu überwältigen.
Sie vermochte sich kaum noch auf den Beinen zu halten.
Schließlich stolperte sie über eine Wurzel und fiel am
Fuß eines Baumfarns in weichen, mit Blättern
übersäten Lehm.
Sie versuchte sich aufzustützen, aber sie hatte keine Kraft
mehr in den Armen. Sie richtete sich auf Händen und Knien auf,
aber die Farben der Welt verblassten, und das dunkle, alles
verschluckende Grün wurde grau. Dann schien der Boden sich
aufzurichten und schlug ihr hart ins Gesicht.
Die Erde war kühl unter der Wange. Sie schloss die Augen. Die
Schmerzen der Prellungen und der Schnittwunde schienen nachzulassen
und rumorten in der Ferne wie der Donner des Gewitters. Ihr Kopf
wurde von Lärm erfüllt – monoton und laut und doch
irgendwie tröstlich. Sie versank im Lärm.
Nach Capo war die große Abspaltung von den Schimpansen
erfolgt. Die neuen Menschenaffen, die nun folgten, waren Hominiden
– das heißt, den Menschen näher als Schimpansen und
Gorillas.
Im großen Drama der Evolution der Hominiden war das Erlernen
des aufrechten Gangs die leichtere Übung gewesen. Jahrmillionen
des affenartigen Baumkletterns hatten hierzu die Grundlagen gelegt.
Während Capos Nachkommen sich ans neue Leben an der Nahtstelle
zwischen Wald und Savanne anpassten, musste der Körper für
die Verfeinerung des aufrechten Gangs weniger umorganisiert
werden als für eine Rückkehr zum vierbeinigen Gang.
Die Füße, die sich nun nicht mehr in bizarren Winkeln
an Ästen festhalten mussten, wurden zu kompakten Stampfern
vereinfacht, die viel von ihrer Beweglichkeit einbüßten,
und der große Zeh verlor die Funktion als Daumen. Dafür
dienten die neuen gewölbten Füße als
Stoßdämpfer, mit denen man große Distanzen ohne
Verletzungen zurückzulegen vermochte. Die Kniegelenke und
Schenkelknochen wurden umkonstruiert, um die neue senkrechte Last
aufzunehmen. Das Rückgrat der Zweibeiner wurde länger und
S-förmig, um die Schwerpunkte über den Füßen und
auf der Mittellinie des vertikalen Körpers zu positionieren.
Neue Hüftgelenke bildeten sich heraus, deren spezielle
Konstruktion es den Hominiden ermöglichte, ein Bein vom Boden zu
nehmen, ohne wie ein Schimpanse das Gleichgewicht zu verlieren. Somit
wurde ein schwankender Gang vermieden. Die Hände mussten keine
kombinierte Greif- und Stützfunktion mehr erfüllen und
wurden flexibler: Die Knöchel wurden kleiner, und der Daumen
wurde ein selbständiges Greifwerkzeug für komplexe und
feinmotorische Aufgaben. Und die Hominiden wurden auch
schwächer, weil sie sich nicht mehr ständig von Baum zu
Baum schwingen mussten.
Der aufrechte Gang erlaubte es den neuen Savannen-Affen, weite
Strecken zwischen verstreuten Nahrungsquellen und Schutzbehausungen
zu gehen oder zu laufen und Früchte und Beeren an entfernten
Orten zu sammeln. Im Lauf der Zeit wurden sie unter dem Einfluss des
gleichen Drucks, der auch die Giraffen geprägt hatte, immer
aufrechter und größer. Der aufrechte Gang war ein so
großer Vorteil, dass er sich auch schon bei anderen
Primaten-Abstammungslinien manifestiert hatte – obwohl diese
Geschöpfe lang vor dem Erscheinen der echten Menschen
ausstarben.
Die kleinen, dürren Pithecinen, die Weit gejagt hatten, waren
wie zweibeinige Schimpansen. Sie waren aufrechter als Capo oder sonst
ein Menschenaffe. Aber ihr Kopf mit dem vorspringenden Mund, der
kleinen Hirnschale und der platten Nase glich dem eines Affen. Und
selbst wenn sie aufrecht standen, war die Körperhaltung gebeugt,
stieß der Kopf nach vorn und reichten die langen Arme mit den
Greifhänden fast bis auf den Boden. Beim Gehen mussten sie mehr
Schritte machen als Weit, um die gleiche Entfernung
zurückzulegen, und sie vermochten sich auch nicht so schnell zu
bewegen. Doch über die kurzen Distanzen, die sie normalerweise
abdeckten, waren sie gute und schnelle Läufer.
Sie lebten an der Peripherie des Waldes. Aber sie hatten auch
gelernt, die Ressourcen der Savanne zu erschließen: vor allem
die Kadaver der großen Pflanzenfresser, die von Räubern
erlegt worden waren. Wenn die Gelegenheit sich bot, rannten sie aus
der Deckung des Waldes zu einem Kadaver, schwangen ihre
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