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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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wegen der Wolken hungern. Was sie aber nicht wusste, war, weshalb die
Wolken überhaupt verschwunden waren. Noch wusste sie es
nicht.
    Das war ihr Talent: Sie sah Muster und Zusammenhänge,
Geflechte von Ursachen und Wirkungen, die sie faszinierten und
zugleich verwirrten. Ihre Gabe, Kausalzusammenhänge zu erkennen,
verschaffte ihr allerdings keine Lebensfreude. Stattdessen wurde sie
von Misstrauen geradezu zerfressen. Aber es half ihr manchmal dabei,
durchs Leben zu gehen – so wie heute.
    Sie kam zu einem Affenbrotbaum und betrachtete seine knorrigen
Äste. Sie wusste, was sie machen wollte: einen Bumerang, eine
gekrümmte Wurfwaffe. Also prüfte sie die Äste und
Ansätze und suchte eine Stelle, wo die Maserung des Holzes und
die Wachstumsrichtung der endgültigen Form der Waffe
entsprachen, wie sie sie vorm geistigen Auge sah.
    Schließlich fand sie einen schlanken Ast, der geeignet
schien. Mit einem Ruck brach sie ihn dicht über dem Punkt ab, wo
er aus dem Baum wuchs. Dann setzte sie sich in den Schatten des
Affenbrotbaums, schälte mit dem Steinwerkzeug die Rinde ab und
bearbeitete das Holz. Dabei drehte sie die steinerne Schneide immer
wieder in der Hand, um alle Kanten gleichmäßig zu nutzen.
Dieses Werkzeug – das weder eine Axt noch ein Messer oder ein
Schaber war – war im Moment ihr Lieblingsutensil. Weil sie jedes
Werkzeug, das sie nicht an Ort und Stelle zu fertigen vermochte,
hätte transportieren müssen, hatte sie dieses eine Werkzeug
für viele Aufgaben gefertigt und es bereits ein paar Mal
nachbearbeitet.
    Bald hatte sie einen glatten, angewinkelten Stock mit einer
Länge von ungefähr dreißig Zentimetern angefertigt,
der an einer Seite flach und an der anderen abgerundet war. Sie wog
den Bumerang in der Hand, prüfte mit einem in langer Praxis
gewonnenen Urteilsvermögen die Balance und das Gewicht und
schabte noch etwas überschüssiges Material ab.
    Dann trat sie aus dem Schatten des Affenbrotbaums hinaus und ging
am schlammigen Seeufer entlang. Sie fand die Stelle wieder, wo sie
vor ein paar Tagen ein Netz aus geflochtenen Rindenfasern versteckt
hatte. Das Netz war noch unbeschädigt. Sie schüttelte den
Staub aus und die Käfer, die die trockenen Fasern annagten.
    Nun spannte sie das Netz zwischen zwei dürre, günstig
stehende Affenbrotbäume, dass es dem See zugewandt war. Sie
hatte diesen Ort gerade wegen der Affenbrotbäume
ausgewählt.
    Dann ging sie um den See zurück, bis sie sich im rechten
Winkel zum Netz befand. Sie ergriff den Wurfstock und übte mit
heraushängender Zunge die Bewegung des Wurfs, den sie
ausführen würde. Sie hätte nur diese eine Chance und
musste es gleich beim ersten Mal richtig machen…
    Ein dumpfer Schmerz pulsierte in ihren Schläfen wie Donner in
fernen Bergen.
    Sie verlor das Gleichgewicht und verzog vor Ärger über
diese Beeinträchtigung das Gesicht. Der Schmerz selbst war
auszuhalten, aber er war nur ein Vorbote dessen, was noch kommen
sollte. Die Migräne war eine unbarmherzige Plage, die sie
häufig heimsuchte, und es gab auch nichts, was sie dagegen zu
tun vermochte. Es gab kein Heilmittel und nicht einmal einen Namen
dafür. Aber sie wusste, dass sie ihre Aufgabe erledigen musste,
ehe die Schmerzen es unmöglich machten. Andernfalls würden
sie und ihr Sohn heute Hunger leiden müssen.
    Sie ignorierte das Hämmern im Kopf, nahm wieder die
Wurfstellung ein, hob den Stock und warf ihn kraftvoll und
präzise. Der wirbelnde Stock beschrieb einen schönen hohen
Bogen über dem See, wobei die hölzernen Flügel mit
einem leisen Rauschen wirbelten.
    Die dasitzenden Wasservögel wurden unruhig und stießen
gereizte Rufe aus, und als der Stock in der Luft wendete und auf sie
niederging, gerieten sie in Panik. Mit rauschendem, schwerem
Flügelschlag erhoben die Vögel sich in die Lüfte und
flohen vom See – und die tief fliegenden Tiere an den
Rändern des Schwarms flogen direkt in Mutters Netz. Grinsend
rannte sie um den See zurück, um die Beute einzusammeln.
    Zusammenhänge. Mutter warf den Bumerang, der die
Vögel erschreckte, die ins Netz flogen, weil Mutter es dort
aufgespannt hatte. Dies war ein anschauliches Beispiel für
Mutters Denken in kausalen Verknüpfungen.
    Doch mit jedem Schritt, den sie machte, wurden die Kopfschmerzen
schlimmer. Das Gehirn schien im großen Kopf zu rasseln, und die
kurze Freude über den Erfolg wurde wie immer zunichte
gemacht.
     
    Mutters Leute lebten in einem Lager in der Nähe eines
ausgetrockneten,

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