Evolution
Sie hatte ihren Sohn ignoriert und war
ins nahe Wäldchen gerannt.
Bald hatte sie das angefertigt, was ihr vorschwebte. Es war ein
kurzer moosbesetzter Stock mit einer Kerbe, die sie in ein Ende
geschnitten hatte. Als sie den Speer in die Kerbe legte und den Speer
zu werfen versuchte, war der Stock wirklich – wie sie es sich
vorgestellt hatte – wie eine Verlängerung des Arms, die ihn
sogar noch länger als Schösslings Arm machte, und die Kerbe
war wie ein Finger, der den Speer festhielt.
Es gab nur sehr wenige Leute auf dem Planeten, die zu dieser
gedanklichen Leistung imstande gewesen wären – eine
Analogie zwischen einem Stock und einer Hand herzustellen, einem
natürlichen Gegenstand und einem Körperteil. Doch Mutter
war dazu in der Lage.
Wie immer, wenn sie ein Projekt wie dieses in Angriff genommen
hatte, ging sie vollkommen darin auf, und es war in ihren Augen sogar
schade für die Zeit, die sie für Nahrungssuche, -aufnahme
und Schlaf aufwandte – sogar für das Zusammensein mit ihrem
Sohn.
In lichten Momenten war sie sich aber bewusst, dass sie Still
vernachlässigte. Doch Sauer, ihre Tante, kümmerte sich um
ihn. Dafür waren alternde weibliche Verwandte schließlich
da, um die Last der Kinderaufzucht zu teilen. Trotzdem misstraute
Mutter Sauer im tiefsten Innern. Irgendetwas war wirklich in ihr
sauer geworden, als sie ihr zweites Kind verloren hatte; obwohl sie
selbst eine Tochter hatte, zeigte sie ein Interesse an Still, das
schon nicht mehr gesund war. Mutter hatte aber keine Zeit, sich
darüber Gedanken zu machen, solange sie derartig vom Speerwerfen
besessen war.
Sie übte ohne Unterbrechung mit Schössling, während
die Sonne durch den Himmel wanderte, und der junge Mann wurde langsam
ungehalten. Er war durstig, ihm war heiß, und er hatte sein
Tagewerk noch nicht einmal begonnen. Und jedes Mal versagte er.
Schließlich erkannte Mutter, wo das Problem lag. Es war
keine Frage der Technik. Schössling begriff das Prinzip nicht,
das sie ihm zu zeigen versuchte: dass es nicht die Hand war,
die den Wurf ausführte, sondern der Stock. Und bevor er
das nicht verstanden hatte, würde er mit dem Katapult nichts
anzufangen wissen.
Schössling war einem unflexiblen Schubladendenken verhaftet,
das fast noch so starr war wie das seines Ahnen Kieselstein. Er hatte
eine hohe soziale Intelligenz; mit den Intrigen, taktischen
Allianzen, falschen Versprechen und Verrat wäre er Machiavelli
ebenbürtig gewesen. Aber er wandte diese Intelligenz nicht
für andere Aktivitäten an, zum Beispiel für die
Werkzeugfertigung. Es war, als ob in dieser Hinsicht ein anderes
Bewusstsein zugeschaltet würde, ein Bewusstsein, das nicht
höher entwickelt war als das von Weit.
Mutter fiel da aber etwas aus dem Rahmen, und das war auch der
Grund für ihre Andersartigkeit und das Geheimnis ihres
Erfolgs.
Sie nahm ihm das Katapult ab, setzte den Speer in die Kerbe und
tat so, als ob sie ihn werfen wolle. »Hand, werfen, nein«,
sagte sie und veranschaulichte, wie der Stock den Speer anschob.
»Stock, werfen. Ja, ja. Stock. Werfen. Speer. Stock werfen
Speer. Stock werfen Speer…«
Stock werfen Speer. Das war vielleicht ein Satz. Aber er
hatte eine rudimentäre Struktur – Subjekt, Verb, Objekt
–, und ihm gebührte auch die Ehre, einer der ersten
Sätze zu sein, der auf der ganzen Welt in menschlicher Sprache
gesprochen wurde.
Während sie die Botschaft unablässig wiederholte, zeigte
sie allmählich Wirkung.
Grinsend nahm Schössling ihr den Speer und das Katapult
wieder ab. »Stock werfen Speer! Stock werfen Speer!« Er
steckte den Speer in die Kerbe, schwang den Arm zurück, hielt
den Speer über die Schulter und schleuderte ihn mit aller
Kraft.
Beim ersten Mal war es ein lausiger Wurf. Der Speer landete im
Dreck, weit von der Palme entfernt, die sie eigentlich als Ziel
ausgesucht hatte. Aber er hatte das Prinzip verstanden. Aufgeregt
plappernd rannte er hinter dem Speer her. Mit einem Anflug von
Mutters Besessenheit versuchte er es immer wieder.
Sie hatte diese Idee wegen ihrer besonderen Fähigkeit
entwickelt, den Wurfstock auf mehr als nur eine Art zu betrachten. Er
war natürlich ein Werkzeug, aber in der Art und Weise, wie er
den Speer hielt, war er auch wie ein Finger – und mit Blick
darauf, dass er Dinge zu tun vermochte, nämlich den Speer
für einen zu werfen, war er sogar wie eine Person. Wer imstande
war, einen Gegenstand aus mehr als nur einem Blickwinkel zu
betrachten, vermochte sich
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