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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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und
zurückgezogen von den anderen wartete er auf sie. Er schlug nach
seinem Vater, einem kleinwüchsigen, erfolglosen Jäger, der
sich einmal lieblos mit Mutter gepaart hatte, und durch dieses eine
Mal war sie schon schwanger geworden.
    Ihre sexuellen Erlebnisse waren sporadisch und auch nicht sehr
angenehm gewesen. Sie hatte bisher noch keinen Mann getroffen, der
stark oder auch geduldig genug gewesen wäre, ihren intensiven
Blick, ihre Besessenheit, ihr aufbrausendes Naturell und den
häufigen schmerzerfüllten Rückzug in sich selbst zu
tolerieren. Es war ihr großes Unglück, dass der Mann, der
sie geschwängert hatte, sich schnell eine andere gesucht hatte
und bald vom Axthieb eines Rivalen niedergestreckt worden war.
    Das Kind hieß Still, denn das war sein hervorstechendes
Wesensmerkmal. Zugleich war sie Mutter, weil es manchmal nämlich
schien, als ob sie in den Augen der anderen Leute gar keine
Identität hätte – wenn überhaupt, wurde sie nur
über den Jungen definiert. Also war sie Mutter. Sie hatte ihm
wenig zu bieten. Immerhin musste er bei ihr keinen Hunger leiden, der
manchen anderen Kindern in dieser Zeit der Dürre schon die
Bäuche auftrieb.
    Schließlich legte der Junge sich auf die Seite, rollte sich
zusammen und steckte sich den Daumen in den Mund. Sie selbst legte
sich auf ihre Lagerstatt aus Stroh. Sie wusste aus Erfahrung, dass es
keinen Zweck hatte, den Schmerz bekämpfen zu wollen.
    Sie war immer schon isoliert gewesen, selbst als Kind. Sie hatte
sich weder am Kräftemessen und den anderen Vergnügungen
beteiligt, denen die anderen Jugendlichen gefrönt hatten, noch
ihre Sexualität entdeckt. Die anderen schienen immer zu wissen,
wie sie sich zu verhalten hatten, was sie tun mussten und den
richtigen Zeitpunkt zum Lachen und Weinen zu kennen. Sie hatten
gewusst, wie man sich einfügte – ein Geheimnis, das
sie nie entdeckt hatte. Und ihr dynamischer Einfallsreichtum in einer
so beharrenden Kultur und die Angewohnheit, sich Gedanken
darüber zu machen, wieso Dinge geschahen und wie sie geschahen, trugen auch nicht gerade zu ihrer Beliebtheit
bei.
    Im Lauf der Zeit war ihr der Verdacht gekommen, dass die anderen
Leute über sie redeten, wenn sie nicht da war, dass sie sich
gegen sie verschworen hatten und danach trachteten, sie
heimtückisch und hinterhältig ins Unglück zu
stürzen. Was das Verhältnis zu ihren Artgenossen auch nicht
verbesserte.
    Aber es gab auch erfreuliche Momente.
    Der Kopfschmerz wollte zwar nicht verschwinden. Aber es war
während der Kopfschmerzen, wenn sie die Gebilde sah. Die
einfachsten waren Sterne – aber sie waren auch wieder keine
Sterne, denn sie loderten gleißend hell auf, bevor sie
erloschen. Dann versuchte sie, den Kopf zu drehen und sie zu
verfolgen und vielleicht auch zu sehen, woher die nächsten
kamen. Doch die Sterne bewegten sich mit den Augen und schwankten wie
Schilf in einem See. Und dann erschienen immer mehr Gebilde:
Zickzack-Linien, Spiralen, Gitter, Kurven und Parallelen. Selbst in
der tiefsten Dunkelheit, wenn der Schmerz sie fast blendete, sah sie
die Gebilde. Und wenn der Schmerz dann nachließ, dauerte die
Erinnerung an die seltsamen Leuchterscheinungen immer noch an.
    Und während sie den Körper zwang, sich zu entspannen,
dachte sie an den langarmigen Speer werfenden Schössling, an den
kleinen Still, wie er die Zweige unablässig hin und her
schob…
    Verbindungen.
     
    Schössling versuchte es erneut.
    Mit einem gereizten Gesichtsausdruck hakte er den Speer in den
gekerbten Stock ein, den Mutter ihm gegeben hatte. Dann nahm er den
Speer in die rechte Hand und stützte ihn mit der linken Hand auf
der Schulter ab, sodass er mit der Spitze nach vorn wies.
Zögernd machte er ein paar Schritte und holte mit dem rechten
Arm aus – und der Speer richtete sich auf, die geschwärzte
Spitze wies gen Himmel, dann fiel er auf den Boden.
    Schössling ließ den bearbeiteten Stock fallen und
trampelte darauf herum. »Dumm, dumm!«
    Mutter versetzte ihm frustriert einen Schlag gegen den Hinterkopf.
»Dumm! Du!« Wieso war er nur so schwer von Begriff? Sie hob
den Speer und den Stock auf, drückte Schössling die
Gegenstände in die Hand und schloss seine Finger darum, damit er
es noch mal versuchte.
    Sie hatte den ganzen Morgen daran gearbeitet.
    Nach dieser brutalen Migräne war Mutter mit einer neuen
Vision im Kopf aufgewacht, einer eigentümlichen Mischung aus
Stills ›Stöckchen-Hockey‹ und Schösslings langem,
hebelkräftigem Wurfarm.

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