Evolution
Chasma-Mutter einst ihre Jungen auf den unglücklichen
Elefant angesetzt hatte, schubste nun Harpune, deren Bauch stolz
geschwollen war, Glatt auf das Kind zu. Kieselsteins Tochter hatte
ein Hackwerkzeug aus Stein. Sie hatte einen so geschmeidigen
Körper wie ihre Mutter und wirkte in diesem Moment fiebrig und
begierig. Und sie hob den Hackstein über den flachen Kopf des
Kindes.
Obwohl er nie einem Kampf aus dem Weg ging, wünschte
Kieselstein sich plötzlich, weit weg von hier zu sein, im
Sonnenuntergang am Strand zu sitzen oder Maniokknollen auszugraben
und nach Hause zu seiner Mutter zu bringen.
Doch am nächsten Morgen war das Feuer heruntergebrannt. Von
den Hominiden waren nur noch hautbespannte Skelette übrig, und
die verkohlten Leiber waren geschrumpft und wie Embryos
verkrümmt. Ko-Ko und Glatt gingen zwischen den schwelenden
Überresten umher und zertrümmerten sie mit den
Schäften der schweren Stoßspeere.
KAPITEL 11
MUTTERS LEUTE
Sahara, Nordafrika,
vor ca. 60.000 Jahren
I
Mutter war allein unterwegs, als schlanke aufrechte Gestalt in
einer topfebenen Landschaft. Der Boden glühte unter ihren
Füßen, und der Staub stach und kitzelte sie. Sie kam zu
einer Gruppe Hoodia-Kakteen. Sie ging in die Hocke, schnitt einen
etwa gurkengroßen Strunk ab und kaute das feuchte Fleisch.
Sie war nackt, hatte nur einen Gürtel aus Antilopenleder um
die Hüfte geschlungen. Das Einzige, was sie bei sich trug, war
ein behauener Stein. Ihr Gesicht war durchweg menschlich mit einer
glatten, hohen Stirn und einem spitzen Kinn. Doch der Mund war
zusammengekniffen, und die tief in den Höhlen liegenden Augen
irrlichteten argwöhnisch.
Die sie umgebende Savanne war trocken und trist. Die leere,
schattenlose Ebene erstreckte sich in alle Richtungen und löste
sich in einem gespenstischen Hitze-Flimmern auf, das den Horizont
verschleierte. Die Leere wurde nur von einzelnen zähen
Büschen oder den Überresten eines von Elefanten
zertrampelten Wäldchens unterbrochen. Es lag nicht einmal mehr
Dung herum, weil die großen Pflanzenfresser nur noch selten
hier durchkamen und die kleinen, fleißigen Mistkäfer ihr
Werk längst getan hatten.
Sie umklammerte den Kaktusstrunk und ging weiter.
Schließlich gelangte sie zum Ufer eines Sees – oder wo
das Ufer letztes Jahr gewesen war oder vielleicht das Jahr zuvor. Nun
war der Boden ausgetrocknet. Er war eine Schicht aus dunklem, in der
Hitze gesprungenem Schlamm, der so hart war, dass er nicht einmal
zerbröselte, als sie darauf trat. Hier und da klammerten
struppige Grasbüschel sich ans Leben.
Sie beschirmte die Augen mit den Händen. Das Wasser war immer
noch da, aber weit von ihrem Standort entfernt. Es war nur ein ferner
Schimmer. Doch sogar von hier aus stieg ihr der feuchte Modergeruch
eines fast zugewachsenen Gewässers in die Nase. An der
gegenüberliegenden Seite des Sees sah sie Elefanten, schwarze
Schemen, die sich wie Wolken in der flimmernden Hitze bewegten, und
andere Tiere, die sich im Schlamm suhlten – vielleicht
Warzenschweine.
Und auf der überwucherten Wasseroberfläche des Sees
machte sie Wasservögel aus. Der Schwarm saß friedlich in
der Mitte des Sees, wo er vor den hungrigen Räubern des Landes
sicher war.
Mutter lächelte. Die Vögel waren genau da, wo sie sie
haben wollte. Sie machte kehrt und entfernte sich vom schlammigen
Ufer des Sees.
Im Alter von dreißig Jahren war Mutters Körper noch
genauso geschmeidig und straff, wie er es in der Jugend gewesen war.
Aber der Bauch zeigte Streifen von der Geburt ihres einzigen Kinds,
eines Sohnes, und die Brüste hingen herunter. Dafür hatte
sie ein pralles Hinterteil; das war eine Anpassung an die langen
Dürreperioden, um Wasser im Fett zu speichern. Die
Gliedmaßen hatten sehnige Muskeln, und der Bauch war nicht wie
bei vielen Leuten durch Unterernährung angeschwollen. Sie war
offensichtlich recht lebenstüchtig.
Jedoch vermochte sie sich nicht daran zu erinnern, wann sie zum
letzten Mal glücklich gewesen war. Nicht einmal als Kind, als
sie unbeholfen gewesen war, wenig geredet und Schwierigkeiten gehabt
hatte, sich einzufügen. Nicht einmal als sie einen gesunden,
strammen Sohn zur Welt gebracht hatte.
Sie sah zu viel.
Die Dürre zum Beispiel. Die Wolken waren verschwunden, sodass
die Sonne den ganzen Tag vom Himmel brannte. Sie trocknete das Land
aus und ließ das Wasser verschwinden, sodass die Tiere starben
und die Leute wiederum Hunger leiden mussten. Also mussten die
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