Evolution
liegen musste.
Es gab keinen Grund, weshalb er gestorben war. Das war es,
was ihr zu schaffen machte. Wenn sie gesehen hätte, wie er
abgestürzt, ertrunken oder von einem Elefanten zertrampelt
worden wäre, dann hätte sie gesehen, weshalb er
gestorben war, und hätte es vielleicht zu akzeptieren vermocht.
Natürlich hatte sie schon Mitglieder des Stamms gesehen, die von
Krankheiten befallen worden waren. Sie hatte viele Leute an Ursachen
sterben sehen, die niemand zu benennen und schon gar nicht zu
behandeln vermochte. Aber das machte es umso schlimmer: Wenn schon
jemand sterben musste, wieso ausgerechnet Still? Und wenn er durch
eine Laune des Zufalls umgekommen war – wenn jemand, der ihr so
nahe stand, so willkürlich aus dem Leben gerissen wurde –,
dann konnte ihr das auch passieren, jederzeit und
überall.
Das war nicht hinzunehmen. Alles hatte eine Ursache. Und deshalb musste es auch eine Ursache für Sülls Tod
geben.
Die Besessenheit ergriff wieder Besitz von ihr, und sie zog sich
in sich zurück.
II
Bald nach dem Zeitalter von Kieselstein und Harpune war eine
Zwischeneiszeit angebrochen, ein Abschnitt mit einem
gemäßigten Klima zwischen den viele Jahrtausende
währenden Eiszeiten. Die mächtigen Eiskappen waren
geschmolzen und der Meeresspiegel angestiegen, worauf Tiefland
überflutet und Küstenlinien neu gezeichnet worden waren.
Zwölftausend Jahre nach Kieselsteins Tod neigte dieser Sommer
sich aber dem Ende entgegen. Wieder setzte eine starke Abkühlung
ein, und das Eis rückte erneut vor. Als das Eis die Feuchtigkeit
aus der Luft saugte, schien der Planet einen Schwall trockener Luft
auszuatmen. Wälder schrumpften, Grasland breitete sich aus, und
die Wüstenbildung verstärkte sich.
Die im mächtigen Regenschatten des Himalaja liegende Sahara
war noch keine Wüste. Das Innere war mit großen, flachen
Seen durchsetzt – Seen in der Sahara. Diese Gewässer
dehnten sich aus, schrumpften und trockneten manchmal ganz aus. In
der größten Ausdehnung wimmelten sie jedoch von Fischen,
Krokodilen und Flusspferden. Um die Gewässer versammelten sich
Strauße, Zebras, Nashörner, Elefanten, Giraffen,
Büffel, verschiedene Antilopenarten und Tiere, die der moderne
Betrachter nicht als typisch afrikanisch angesehen hätte,
beispielsweise Mufflons, Ziegen und Esel.
Wo es Wasser gab, da gab es auch Tiere – und Menschen. Dies
war die Umwelt, in der Mutters Leute zu Hause waren. Aber es war nur
eine Nische, und das ›Sahnehäubchen‹ des Lebens war
klein. Die Leute mussten hart arbeiten, um zu überleben.
Und die Leute waren noch erstaunlich dünn gesät.
Bisher waren die Menschen noch nicht aus Afrika
ausgeschwärmt. In Europa und im asiatischen Raum gab es nur die
brauenwulstigen Robusten und an manchen Stellen noch die älteren
Formen, die dürren Läufer. Amerika und Australien waren
noch menschenleer.
Und selbst in Afrika lebten nur wenige Menschen. Die mobile, auf
Handel gegründete Lebensweise, die mit Harpune und ihrer Art
entstanden war, hatte sich nicht nur als ein Segen erwiesen. Seitdem
die Menschen die Wälder verlassen hatten, waren sie
anfällig für Trypanosomen, Parasiten, die die
Schlafkrankheit verursachten und von den Wolken der Tsetsefliegen
übertragen wurden, die die Huftierherden der Savanne
begleiteten. Nun breiteten solche Krankheiten sich aus. Die
Handelsnetzwerke der Leute hatten sich als sehr effektiv beim
Austausch von Gütern, kulturellen Innovationen und Genen
erwiesen – allerdings auch bei der Verbreitung von
Krankheitserregern.
Und in kultureller Hinsicht tat sich ohnehin nichts.
Kieselstein hätte sich in Mutters Lager wie zu Hause
gefühlt. Die Leute schlugen noch immer Splitter von Stein-Kernen
ab und wickelten sich Tierhäute um den Körper, die mit
Sehnenoder Lederschnüren zusammengebunden wurden. Und die
Verständigung war nach wie vor nur ein unartikuliertes Gestammel
aus konkreten Wörtern für Dinge, Gefühle und
Handlungen, aber nutzlos für die Übermittlung komplexer
Informationen.
Über siebenundzwanzigtausend Jahre hatten diese Leute
-Menschen mit einem ebenso modernen Bauplan und sogar einem ebenso
modernen Gehirn wie die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts
– kaum eine Innovation in Technologie und Technik zustande
gebracht. Es war eine Zeit lethargischer Passivität und der
Stagnation gewesen. Nach wie vor hatten die Leute nur den Status
Werkzeug benutzender Tiere in der Ökologie – wie Biber und
Laubenvögel – und
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