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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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vorzustellen, alle möglichen Sachen
damit zu machen.
    Von allein wäre Schössling wahrscheinlich nie auf die
Idee gekommen. Nachdem er das Konzept aber erst einmal verstanden
hatte, setzte er es schnell um; so verschieden war sein Bewusstsein
schließlich nicht von ihrem. Als Schössling den
großen Wurfstock vorwärts zog, übte der eine so
große Kraft auf den Speer aus, dass dieser sich durchbog: Der
sich krümmende Speer schien förmlich davon zu springen, wie
eine Gazelle, die einer Falle enteilte. Mutters Bewusstsein
überschlug sich vor Zufriedenheit und Überlegungen.
    »Krank.« Das hässliche Wort platzte in ihre
Euphorie. Sauer, ihre Tante, stand vor Mutters Hütte. Sie wies
ins Innere.
    Mutter rannte über den festgestampften Schmutz zur
Hütte. Schon beim Betreten roch sie den beißenden Gestank
von Erbrochenem. Still war zusammengekrümmt und hielt sich den
aufgeblähten Bauch. Er zitterte, das Gesicht war fahl und
schweißnass. Seine Lagerstatt war mit Erbrochenem und Kot
verschmiert.
    Sauer, die im grellen Licht vor der Hütte stand, grinste mit
hartem Gesicht.
     
    Der Todeskampf von Still dauerte einen Monat.
    Seine Mutter wäre fast daran zerbrochen.
    Ihr instinktives Verständnis der Kausalität versagte.
Hier, wo es um Leben und Tod ging, funktionierte nichts. Es
gab Krankheiten, die man zu behandeln vermochte. Wenn man sich den
Arm oder das Bein brach, wurde es gerichtet und verbunden, wobei es
oftmals genauso gut zusammenwuchs wie zuvor. Bei Insektenstichen
vermochte man das Gift mit Sauerampfer zu neutralisieren. Aber es gab
nichts, was sie gegen diesen seltsamen Verfall zu tun vermochte,
für den es nicht einmal ein Wort gab.
    Sie brachte ihm Dinge, die er liebte, einen knorrigen Ast,
glitzernde Pyritbrocken und sogar einen seltsamen spiraligen Stein,
bei dem es sich in Wirklichkeit um einen fossilierten, dreihundert
Millionen Jahre alten Ammoniten handelte. Aber er berührte die
Sachen nur oder beachtete sie gar nicht.
    Und dann kam der Tag, da er sich auf seinem Lager nicht mehr
rührte. Sie wiegte ihn und summte leise, wie sie es getan hatte,
als er ein kleines Kind war. Aber sein Kopf baumelte. Sie versuchte
ihm Nahrung in den Mund zu stecken, aber seine Lippen waren blau, und
der Mund kalt. Sie presste diese kalten Lippen sogar an ihre
Brust, aber sie hatte keine Milch.
    Schließlich kamen die anderen.
    Sie wehrte sie ab, in der Überzeugung, dass, wenn sie es nur
noch etwas länger versuchte und es noch etwas mehr wollte, er
wieder lachte, nach den Katzengold-Brocken griff, aufstand und nach
draußen lief. Aber sie war durch seine Krankheit selbst
geschwächt, und sie nahmen ihn ihr mit Leichtigkeit ab.
    Die Männer hoben außerhalb des Lagers eine Grube im
Boden aus. Der schon erstarrende Körper des Jungen wurde dort
hineingelegt, und das Loch wurde mit dem ausgehobenen Erdreich hastig
wieder zugeschüttet, bis nur noch eine verfärbte Stelle im
Boden zu sehen war.
    Es war funktional, aber auch schon eine Zeremonie. Die Leute
legten ihre Toten seit dreihunderttausend Jahren in den Boden.
Anfangs war das eine notwendige Maßnahme der Abfallentsorgung
gewesen: Wenn damit zu rechnen war, dass man am selben Ort alt wurde
und starb, musste man ihn auch sauber halten. Doch nun lebten die
Leute als Nomaden. Mutters Stamm würde bald von hier
verschwunden sein. Sie hätten die Leiche des Jungen auch einfach
liegen lassen und den Aasfressern überlassen können, den
Hunden, Vögeln und Insekten; welchen Unterschied hätte das
auch gemacht? Und doch begruben sie ihn, wie sie es immer schon getan
hatten. Sie schienen es als richtig zu empfinden.
    Aber es wurden keine Worte gesprochen, kein Zeichen gesetzt, und
die anderen zerstreuten sich schnell. Der Tod war so absolut, wie er
es immer gewesen war, bis zu den Anfängen der Abstammungslinien
der Hominiden und Primaten: Der Tod war ein Endpunkt, das Ende der
Existenz, und jene, die dahingegangen waren, waren so bedeutungslos
wie verdunsteter Tau – selbst ihre Namen waren nach einer
Generation vergessen.
    Aber nicht so für Mutter. Nein, ganz und gar nicht.
    In den Tagen nach dem grausamen Ende und dem schnellen
Begräbnis kehrte sie immer wieder an die Stelle zurück, wo
ihr Sohn begraben lag. Auch als der ausgehobene Boden die alte Farbe
wieder annahm und Gras darüber zu wachsen begann, erinnerte sie
sich noch immer genau daran, wo die Ränder des Lochs gewesen
waren. Sie vermochte sich vorzustellen, wie er dort unten tief in der
Erde

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