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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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standen kaum über den Schimpansen.
Und schleichend verloren sie den Überlebenskampf.
    Irgendetwas fehlte.
     
    Sie hätte einfach allein im Staub verschwinden
können.
    Welchen Sinn hatte das Leben noch in einer Welt ohne Still?
    Doch dann schüttelte sie die tiefe Niedergeschlagenheit
ab.
    Sie fing wieder an, Nahrung zu suchen, damit sie etwas zu essen
und zu trinken hatte. Das musste sie auch; wenn sie es nicht getan
hätte, wäre sie gestorben. Dies war keine reiche
Gesellschaft. Obwohl man sich durchaus um die Schwachen, Kranken und
Alten kümmerte, vermochte man denen nicht zu helfen, die sich
nicht selbst helfen wollten.
    Sie war immer schon eine gute Jägerin und geschickte
Sammlerin gewesen. Mit den Werkzeugen, die sie erfand, modifizierte
und verbesserte, war sie sogar besser als manche Jüngere und
Stärkere. Sie erholte sich schnell. Aber die Verwirrung in ihrem
Kopf blieb dennoch bestehen.
    Sie wusste nicht genau, aus welchem Impuls heraus sie die Zeichen
an den Felsen anbrachte.
    Es war nicht einmal eine bewusste Handlung. Sie saß mit
einem Basalt-Schaber in der Hand neben einem weichen, spröden
Sandsteinfelsen; sie hatte gerade eine Ziegenhaut gegerbt. Und da
waren fein säuberlich zwei Zickzack-Linien in den Stein gehauen,
die parallel zueinander verliefen. Ohne nachzudenken hatte sie den Schaber benutzt; der Schaber hatte die Zeichen gemacht. Also
hatte sie die Zeichen gemacht.
    Was ihr Interesse weckte, war, dass sie den Linien in ihrem Kopf
glichen.
    Sie ließ das Lederstück fallen, an dem sie gearbeitet
hatte, und kniete aufgeregt vor dem Felsen nieder. Sie drehte den
stumpfen Schaber, um eine scharfe Kante zu bekommen, bohrte ihn ins
Gestein und zog eine Linie. Sie brachte eine Spirale zustande, die
sich im Zentrum ins Nichts kringelte. Sie war aber nicht so sauber
und hell wie die Figuren in ihrem Kopf; sie war unbeholfen gezogen,
die Linie war uneinheitlich tief, und die Krümmung eckig und
unbeholfen.
    Also versuchte sie es erneut. Sie hatte immer schon ein
Händchen dafür gehabt, Werkzeug aus Stein, Holz oder
Knochen zu zaubern. Diesmal war die Spirale etwas fließender,
dem Ideal vorm geistigen Auge etwas näher. Und sie versuchte es
wieder. Und immer wieder, bis der dröge Felsbrocken mit
Spiralen, Schleifen, Schnörkeln und Linien übersät
war.
    Nun entsprach es genau dem, was sie mit geschlossenen Augen sah.
Es mutete sie wundersam an, dass sie fähig war, die gleichen
Figuren außerhalb des Kopfs zu erzeugen, die sie im Innern
sah.
    Später kam sie auf die Idee, es mit Ocker zu versuchen.
    Die Leute benutzten noch immer das rote Eisenerz als Kreide, um
sich Stammeszeichen auf die Haut zu malen, wie sie es schon in
Kieselsteins Tagen getan hatten. Nun experimentierte Mutter mit dem
weichen Zeug und stellte fest, dass es auf dem Stein viel einfacher
zu handhaben war als ein Schaber. Und man vermochte es auch auf
andere Oberflächen aufzutragen. Bald hatte sie Arme und Beine,
die Häute, die sie trug oder über ihre Behausung spannte
und all ihre Werkzeuge aus Stein, Knochen und Holz mit Schleifen,
Schnörkeln und Zickzack-Linien bemalt.
    Die nächste Phase ihrer künstlerischen Entwicklung wurde
durch die Blume bestimmt.
    Es war eine Art Sonnenblume, nichts Besonderes: Die Samen waren
nicht essbar, aber auch nicht giftig – es war ein profanes
Gewächs. Aber die Blüten umgaben eine schöne gelbe
Spirale, die sich zu einem schwarzen Herzen in der Mitte hinabwand.
Mit einem Schrei des Erkennens stürzte sie sich auf die
Blume.
    Danach nahm sie die Formen überall wahr: Spiralen von
Muscheln und Tannenzapfen, Gitter von Honigwaben, sogar die gezackten
Blitze, die bei Gewittern durch den Himmel zuckten. Es war, als ob
die Inhalte ihres Schädels auf die Außenwelt gespiegelt
würden.
    Es war ein Mädchen, das ihr als Erste nacheiferte.
    Mutter sah sie mit einem Kaninchen über der Schulter
vorbeigehen – und mit einer roten Spirale auf der Wange, die
unter dem Auge auslief. Der Nächste war Schössling mit
Wellenlinien an den langen Armen.
    Und dann sah sie die Linien und Schleifen überall auftauchen.
Sie breiteten sich wie eine Seuche über die Oberflächen des
Lagers und die Körper der Leute aus. Wenn sie ein neues Design
schuf, ein Gitter oder ein Gebilde aus Kurven, wurde es alsbald
kopiert und sogar noch verfeinert – vor allem von den
Jungen.
    Das verschaffte ihr eine gewisse Genugtuung. Die Leute mieden sie
nicht mehr. Sie kopierten sie. Sie war eine Art Führer
geworden,

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