Evolution
in die sie so tief eingeschnitten hatte. Nun
griff er auf seine wertvollen Vorräte zurück und befreite
die Wunde mit einer antiseptischen Flüssigkeit von Schmutz,
geronnenem Blut und Eiter, wobei er sogar noch Haare herausziehen
musste. Zum Schluss behandelte er sie noch mit einer medizinischen
Dichtmasse und Salbe. Vielleicht würde sie das Zeug solang
drauflassen, bis die Wunde desinfiziert war.
In dem Moment, wo er sie losließ, war sie auch schon weg. Er
sah nur noch eine aufrechte, schlanke Gestalt durchs hohe Gras auf
die Bäume zuhuschen; obwohl sie humpelte, war sie immer noch
verdammt schnell.
Es war schon später Nachmittag. In der Dunkelheit sollten sie
sich nicht allein von der Basis entfernen: Das hatte Ahmed ihnen
ausdrücklich befohlen. Am liebsten wäre er der Frau in die
grünen Mysterien des Waldes gefolgt. Aber er wusste, dass er das
nicht tun durfte. Bedauernd sammelte er seine Ausrüstung
zusammen und machte sich auf den Rückweg zum Basislager.
Snowy war der Letzte, der an jenem Abend wieder zur Gruppe
stieß.
Sie hatten beschlossen, sich in der Nähe eines Sees
niederzulassen, der ein paar Kilometer von der zerstörten Stadt
entfernt war. Der Ort lag im Windschatten eines gedrungenen,
kegelförmigen Hügels – er war offensichtlich
künstlichen Ursprungs, vielleicht ein Hügelgrab aus der
Eisenzeit oder vielleicht auch nur eine Müllkippe.
Ahmed versammelte sie um den Stumpf eines umgestürzten Baums,
auf dem er fast wie ein König thronte. Snowy wollte den anderen
von seiner aufregenden Begegnung erzählen. Aber sie waren nicht
in der richtigen Stimmung dafür. Also setzte er sich nur
hin.
Moon hatte sich im Verlauf der Zeit immer mehr in sich
zurückgezogen; nun saß sie Ahmed im Schneidersitz
gegenüber und hatte den Blick abgewandt. Dennoch stand sie wie
immer im Mittelpunkt und war das Objekt stiller Begierde. Sidewise
markierte wieder den geistesabwesenden Träumer, aber er
saß Moon gegenüber, und Snowy sah, wie sein Blick
über ihre Hüften und die Wade streifte, die überm
Stiefel hervorblitzte. Ahmed selbst saß in erhöhter
Position neben dem Mädchen auf dem Baumstumpf, als ob sie ihm
gehörte.
Bonner war derjenige, der aus seiner Begierde für Moon kein
Hehl machte. Er saß verlegen und verkrampft da; im Gesicht
hatte er ein Tarnmuster aus Lehm. Er sah selbst wie ein Tier aus,
sagte Snowy sich, und schien nur mit größter Mühe
noch einen Rest von Disziplin wahren zu können.
Snowy sah, dass die Gruppe zerfiel und auseinanderdriftete –
breite Verwerfungslinien zogen sich durch das vorher eng
geknüpfte Beziehungsgeflecht. Sie hatten kaum noch etwas mit der
ängstlichen Gruppe der Marineflieger gemeinsam, die sich in
jener ersten Nacht in der zerstörten Kirche
zusammengedrängt und die Rationen gefuttert hatte. Sie
würden sich vielleicht gegenseitig wegen Moon umbringen, falls
Moon sie nicht vorher tötete.
Und Ahmed, ihr Anführer, war sich dessen nicht einmal
bewusst. Er lächelte sogar. »Ich habe mir Gedanken
über die Zukunft gemacht«, sagte er.
Sidewise stieß ein dumpfes Stöhnen aus.
»Ich meine, über die fernere Zukunft«, sagte Ahmed.
»Über die nächsten paar Monate hinaus, sogar über
die nächsten paar Jahre. Auch wenn wir den nächsten Winter
überstehen, es werden harte Zeiten für unsre
Kinder.«
Bei der Erwähnung der Kinder warf Snowy einen Blick auf Moon.
Sie schaute auf ihre verschränkten Hände.
Ahmed sagte, dass in der Phase der Industrialisierung – und
vor allem während der letzten paar verrückten Jahrzehnte
– die Menschheit alle verfügbaren fossilen Brennstoffe
verfeuert hatte: Kohle, Erdgas und Öl. »Die fossilen
Brennstoffe entstehen wahrscheinlich schon wieder neu. Das wissen
wir. Aber es dauert sehr lange. Das Zeug, das wir in ein paar hundert
Jahren verbrannt haben, benötigte vierhundertfünfzig Millionen Jahre zu seiner Entstehung. Aber es wird trotzdem
genug Brennstoff für unsere Nachfahren geben«, sagte er. »Torf. Torf entsteht, wenn Sumpfmoose, Seggengräser
und andere Pflanzen sich unter Sauerstoffausschluss in Feuchtgebieten
zersetzten. Stimmt’s? Und in manchen Teilen der Welt wurde bis
in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Torf als Brennmaterial
gestochen.«
»In Irland«, sagte Sidewise. »Und in Skandinavien.
Aber nicht hier.«
»Dann gehen wir eben nach Irland oder nach Skandinavien. Oder
vielleicht finden wir ihn auch hier. Die Bedingungen haben sich
nämlich grundlegend verändert, seitdem
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