Evolution
die Sonde NEAR den Ziel-Asteroiden
›geküsst‹ hatte, und die Medien hatten
erwartungsgemäß besonders betont, dass der Kontakt kurz
vorm Valentinstag stattgefunden hatte.
In Anbetracht der Umstände hätte der Name des Asteroiden
jedoch nicht unpassender sein können.
Man war für lange Zeit der Ansicht gewesen, dass Eros mit
seinem exzentrischen Orbit, der sich im Wesentlichen innerhalb des
Mars-Orbits bewegte, keine Gefahr für die Erde darstellte. Ein
Zusammenstoß mit dem Mars erschien viel wahrscheinlicher.
Doch nun war der Mars verschwunden.
Und über lange Zeiträume, in denen er auf die subtilen
Einflüsse der Anziehungskraft der Planeten reagierte und in dem
Maß, wie seine eigenen komplexen, intrinsischen und dynamischen
Instabilitäten sich auswirkten, änderte der Asteroid seine
Bahn. Eine Million Jahre nach dem Untergang der Menschheit hatte er
sich der Erde angenähert – sehr nahe, so nah, dass er mit
dem bloßem Auge zu sehen gewesen wäre, falls jemand
hingeschaut hätte.
Und neunundzwanzig Millionen Jahre später kam er noch
näher.
Erinnerung wurde auf dem Akazienbaum von Juckreiz geplagt. Sie
kratzte sich das Fell und suchte nach den Läusen und Wanzen, die
sich am Blut labten oder Eier unter der Haut ablegten. Aber es gab
auch Stellen, an die sie nicht herankam – zum Beispiel der
Rücken, und natürlich tummelten die Parasiten sich dort am
ungestörtesten.
Dadurch wurde sie schmerzlich an ihre Einsamkeit erinnert. In dem
Maß, wie die Sprache verschwand, hatte die Angewohnheit der
Fellpflege sich wieder etabliert und die alte Funktion als sozialer
Kitt übernommen. (Zumal sie ohnehin nie ganz verschwunden war.)
Erinnerung war aber nicht mehr gekämmt worden, seit sie sich zum
letzten Mal schlafen gelegt und sich zusammen mit ihrer Mutter ins
Nest gekuschelt hatte.
Überhitzt, vom Juckreiz geplagt, hungrig, durstig und einsam
wartete Erinnerung in ihrem Akazienhain, bis die Sonne wieder hoch am
Himmel stand.
Dann kletterte sie vom Baum herunter.
Die Elefanten-Leute und ihre Nagetier-Hirten waren verschwunden.
Im leeren, staubigen Grasland regte sich fast nichts. Die Stille war
so drückend wie die Hitze. Durch das staubige Flimmern sah sie
im Osten einen dunklen Fleck, bei dem es sich vielleicht um eine
Herde von elefantenartigen Schweinen oder Ziegen handelte oder
vielleicht um Hominide. Im Westen nahm sie Bewegung wahr, ein braunes
Fell. Vielleicht war es eine Räuber-Ratte mit ihren Jungen.
Im Norden, wo die purpurnen Berge dräuten, sah sie diesen
dunkelgrünen Klecks. Sie verspürte nur den einzigen Impuls:
sich in den Schutz des Walds zu flüchten.
Nackt und mit leeren Händen lief sie über die Ebene und
ließ sich hin und wieder auf alle viere fallen, um einen Teil
des Gewichts auf die Knöchel zu verlagern. Sie war eine winzige
Gestalt, die eine weite, kahle Landschaft durchquerte und nur vom
Schatten unter ihren Füßen begleitet wurde.
Sie fand kein Wasser und nichts zu essen außer ein paar
Büscheln des spärlichen Grases. Der Durst setzte ihr immer
mehr zu, und die Stille wurde immer drückender. Bald erschien
ihr Leben nur noch aus diesem Marsch zu bestehen, als ob die
Erinnerungen an ein Leben im Grünen und die Familie so
bedeutungslos wären wie ihre Träume vom Fallen.
Sie wurde sich bewusst, dass sie einen flachen Abhang in eine
große, Kilometer durchmessende Senke hinab stieg. Vor dieser
großen Mulde hielt sie inne.
Ein Tal war in die Mitte der Senke eingeschnitten – ein Tal,
das einst von einem Fluss gefräst worden war –, doch selbst
von hier aus sah sie, dass das Tal trocken war. Die Vegetation
unterschied sich von der in der Ebene hinter ihr. Es gab hier keine
Bäume, nur ein paar Büsche und vereinzelte grüne
Grastupfer. Dafür gab es hier jede Menge rauschender violetter
Blätter.
Ein gesundes Misstrauen gegenüber allem Neuen war nie
verkehrt. Jedoch lag diese Senke mitten in ihrem Weg und schnitt sie
vom bewaldeten Abhang ab, der noch weit entfernt war. Sie sah, dass
es hier keine Tiere gab, weder Pflanzenfresser noch pirschende
Räuber.
Also ging sie vorsichtig und wachsam weiter.
Der violett-purpurne Gürtel entpuppte sich als Blumen, die in
dichten Gruppen inmitten dünner fahler Grashalme wuchsen –
ein paar waren so hoch, dass sie ihr bis zur Hüfte reicht. Sie
ging weiter, bis sie überall von kräftigem Purpur umgeben
war. Doch auch hier gab es kein Wasser.
Einst hatte hier eine Stadt gestanden. Doch selbst jetzt, lang
nach
Weitere Kostenlose Bücher