Evolution
Erschütterungen der Erde ab,
und das tägliche Stampfen der berggroßen Reptilien war
verstummt.
Purga war Dunkelheit gewohnt. Aber keine Stille: Diese
unheimliche Stille nahm einfach kein Ende.
Seit unzähligen Generationen hatten die Dinosaurier das Leben
von Purgas Art geprägt. Selbst nach diesem apokalyptischen
Schock hatte sie noch vage Visionen von Dinosaurier-Kohorten, die in
Reihe angetreten waren und nur darauf warteten, dass ein
Säugetier so unvorsichtig war, den Kopf aus dem Bau zu
stecken.
Aber sie konnte auch nicht in diesem behelfsmäßigen Bau
bleiben. Einmal gab es hier keine Nahrung mehr; die Familie hatte
schon alle Würmer und Käfer ausgegraben und verzehrt, an
die sie herangekommen waren. Sie wussten nicht einmal, ob es Tag oder
Nacht war. Der Schlafzyklus war auf der Flucht am Tag des Einschlags
gestört worden. So waren sie zu verschiedenen Zeiten wach, und
der Hunger lag im Widerstreit mit der Angst vor der fremdartigen,
kalten Stille über ihnen. Sie drohten schon übereinander
herzufallen, schnappten nach den anderen und bissen sich.
Und dann stürzte die Temperatur von der Hitze des brennenden
Himmels zu bitterer Kälte ab. Die Primaten wurden zwar durch
eine dicke Erdschicht geschützt, aber dieser Schutz war nicht
von Dauer.
Schließlich wandte Dritter sich gegen das Junge –
Letztes, denn es war Purgas letztes überlebendes Kind. Purga sah
Dritter nicht. Aber mit den Schnurrhaaren und dem gut entwickelten
Gehör spürte sie, wie ihr Gefährte sich Schritt
für Schritt und mit geöffnetem Maul an das Junge anschlich,
als ob er sich an einen Tausendfüßler heranpirschte.
Dritter war zornig, verwirrt, verängstigt und sehr, sehr
hungrig. Und seine Handlung ergab auch einen gewissen Sinn.
Schließlich gab es hier nichts zu fressen. Wenn das Fleisch des
Jungen die Erwachsenen etwas länger am Leben erhielt – lang
genug, um neuen Nachwuchs zu zeugen –, hätte das dem
genetischen Programm entsprochen. Die Überlegungen waren
stringent und logisch.
Unter anderen Umständen hätte Purga sich der Gewalt von
Dritter vielleicht gebeugt und das Junge womöglich noch
gemeinschaftlich mit ihm getötet. Aber Purga hatte bereits ein
für ihre Art langes Leben hinter sich und hatte auch schon viel
erlebt: die Zerstörung des ersten Zuhauses, die lange Verfolgung
durch Verletzlicher Zahn, und nun den Albtraum des Kometeneinschlags
und die Verbannung in diese Welt aus Kälte und Stille.
Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie biss Dritter kräftig
ins Bein, huschte an ihm vorbei und stellte sich vor ihre
Tochter.
Letztes war genauso verwirrt wie die anderen. Aber sie erkannte,
dass ihre Mutter sie gegen eine Art Angriff von ihrem Vater
verteidigte. Also stellte sie sich neben Purga und fletschte die
Zähne gegen Dritter. Eine geschlagene halbe Minute wurde der Bau
von Zischen und dem Geräusch zornig scharrender Pfoten
erfüllt; sechs Schnurrhaarbündel füllten den Raum
zwischen den Primaten aus, von denen jeder auf einen Angriff des
anderen wartete.
Am Ende war es Dritter, der nachgab. Plötzlich gab er die
aggressive Haltung auf und rollte sich in einer Ecke des Baus
zusammen. Purga blieb bei ihrer Tochter, bis ihr Zorn und die
Aggression sich verflüchtigt hatten.
Es war dieser Zwischenfall, der das Gleichgewicht der Kräfte
in Purgas Bewusstsein veränderte.
Sie konnten hier nicht bleiben. Sie würden verhungern oder
erfrieren, wenn sie sich vorher nicht gegenseitig umbrachten. Sie
mussten hier raus, egal welche unbekannten Gefahren in der stillen
Welt über ihnen lauerten. Genug war genug. Als sie das
nächste Mal von der inneren Uhr geweckt wurde, schob Purga die
Erde beiseite, mit der der Eingang des Baus verschlossen war.
Und tauchte in die Dunkelheit ein.
Nach zwei Tagen war das Feuer am Himmel erloschen. Doch nun war
die geschundene Erde von Pol zu Pol mit Staub und Asche bedeckt
– eine schwarze Hülle, die mit gelb-weißen
Schwefelsäure-Wolkenfetzen durchsetzt war. Die ehedem wie ein
Stern leuchtende Erde war in einen düsteren, finsteren Ort
verwandelt worden, der noch dunkler war als der Kern des Kometen, der
diese Katastrophe verursacht hatte. Staub und Asche: Der Staub
stammte von Kometenbruchstücken, vom Meeresboden und
vulkanischem Schutt, der nach den starken Erdbeben ausgestoßen
worden war, die den Planeten erschüttert hatten. Und die Asche
stammte von verbranntem Leben -Pflanzen, Säugetiere und
verschiedene Dinosaurier-Spezies aus Amerika und China,
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