Evolution
Spuren von
Aminosäuren. Das waren die komplexen organischen Verbindungen,
die einst von den lang verschwundenen Kometen auf die
jungfräuliche Erde gebracht worden waren – die
Verbindungen, die die Entstehung von Leben auf der Erde
überhaupt erst ermöglicht hatten. Es handelte sich in
gewisser Weise um ein Wiedergutmachungs-Präsent von einem
Besucher, der viel zu spät gekommen war.
Und als die Wolken sich schließlich verzogen und die
Temperaturen wieder anstiegen, wurde auch das letzte
›Geschenk‹ des Kometen an die Erde ausgepackt. Riesige
Mengen Kohlendioxid, die im Kalkstein des zertrümmerten
Meeresbodens gebunden waren, entwichen in die Luft, und es wurde ein
verheerender Treibhauseffekt ausgelöst. Die sich regenerierende
Vegetation versuchte sich anzupassen. Die ersten Jahrtausende wurden
von Sümpfen, Feuchtgebieten und Faulgas-Gebieten geprägt,
in denen abgestorbene Vegetation Seen und Flüsse verstopfte. Auf
der ganzen Welt entstanden mächtige Kohleflöze.
Durch die Sporen und Samen, die um die Welt geblasen wurden,
gelangten schließlich neue Pflanzengemeinschaften zur
Blüte.
Allmählich wurde die Erde wieder grün.
In der Zwischenzeit nagte der Zahn der Zeit an Purgas
Überresten.
Ein paar Stunden nach ihrem Tod hatten Schmeißfliegen schon
Eier in Augen und Mund abgelegt. Und bald ließen Fleischfliegen
Larven auf die Haut fallen. Als die Maden sich in den Kadaver
fraßen, brachen die Darmbakterien, die ihr ein Leben lang
gedient hatten, aus. Die Eingeweide platzten. Der Inhalt ergoss sich
über andere Organe, und der Kadaver verflüssigte sich wie
ein stinkender Limburger Käse. Das lockte wiederum Fleisch
fressende Käfer und Fliegen an.
In den Tagen nach ihrem Tod machten sich fünfhundert
Insektenarten über Purgas Kadaver her. Nach einer Woche war
nichts mehr von ihr übrig außer Knochen und Zähnen.
Auch die DNA-Moleküle vermochten nicht lang zu überdauern.
Proteine zerfielen in die ursprünglichen Bausteine,
Aminosäuren, die sich wiederum in spiegelbildliche Substanzen
aufspalteten.
Bald darauf flutete ein Schwall saures Wasser die kleine
Höhle. Purgas Knochen wurden einen halben Kilometer entfernt in
einer flachen Mulde abgelagert, zusammen mit den Knochen von
Raptoren, Tyrannosauriern, Entenschnäbeln und sogar Troodons.
Feinde, die im Tod vereint waren.
Mit der Zeit wurden immer mehr Schlammschichten von
Überschwemmungen und über die Ufer tretenden Flüssen
abgelagert. Unter dem Druck verwandelten die Schichten aus Schlick
sich in Gestein. Und Purgas Knochen wurden in ihrem steinernen Grab
auch umgewandelt, als mineralreiches Wasser in jede Pore gepresst
wurde und sie mit Kalzit füllte, sodass die Knochen selbst zu
Stein wurden.
Die tief begrabene Purga trat eine spektakuläre Reise an, die
Jahrmillionen dauerte. Als Kontinente miteinander
zusammenstießen, wölbte das Land sich auf und nahm die in
ihm eingeschlossenen Passagiere mit wie ein Ozeandampfer, der eine
Welle abreitet. Durch Hitze und Druck zerbrach das Gestein und verzog
sich. Und die Erosion wirkte, eine unerbittliche zerstörerische
Kraft, die die schöpferischen Auffaltungen der Erde austarierte.
Im Lauf der Zeit geriet dieses Land zu einer zerklüfteten
Landschaft mit Plateaus, Bergen und Wüsten-Bassins.
Schließlich legte die Erosion das Massengrab frei, das
Purgas Knochen verschluckt hatte. Das zerbröselnde Gestein
brachte versteinerte Knochen ans Licht. Skelettreste wurden an die
Oberfläche gehoben und erwachten aus einem sechzig Millionen
Jahre währenden Schlaf.
Von Purgas Knochen war nicht mehr allzu viel übrig. Sie waren
in geologischen Zeiträumen zu Staub zerfallen. Die
gründliche chtonische Konservierung war vergebens. Doch im Jahr
2010 würde ein entfernter Nachkomme von Purga direkt über
einer merkwürdigen Schicht aus dunklem Lehm einen
geschwärzten Splitter aus einer grauen Felswand ziehen und ihn
sofort identifizieren – als einen winzigen Zahn.
Dieser Moment lag aber noch weit in der Zukunft.
KAPITEL 4
DER LEERE WALD
Texas, Nordamerika,
vor ca. 63 Millionen Jahren
Plesi kletterte durch den endlosen Wald. Das
eichhörnchenartige Wesen erklomm einen schuppigen Baumstamm und
huschte über einen dicken Ast. Obwohl die Sonne fast im Zenit
stand, herrschten hier schlechte und diffuse Lichtverhältnisse.
Das Blätterdach war hoch über ihr, und die grüne
Schicht des Bodens tief unter ihr. Im Wald war es still außer
dem Rascheln der Blätter in der warmen
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