Evolution
ausgeharrt
hatten. Diese kleinen Kreaturen waren daran gewöhnt, sich von
Resten zu ernähren und sich in irgendeiner Ecke zu verkriechen;
ihre Lebensumstände wurden auch durch den Kometeneinschlag kaum
verschlechtert.
Nun rückten sie diesem Riesen auf den Leib, dem letzten der
Ungeheuer, die ihre Welt mehr als hundert Millionen Jahre lang
dominiert hatten. In den langen Monaten seit dem Einschlag hatten sie
sich über eine Welt verbreitet, die wie eine Leichenhalle
anmutete. Und dabei hatten viele von ihnen sich eine neue
Nahrungsquelle erschlossen: Dinosaurier-Fleisch.
Die Zeiten hatten sich geändert.
Aussterben war ein endgültigerer Vorgang als der Tod.
Im Tod hatte man wenigstens noch den Trost, dass die Nachkommen
überlebten und dass man in ihnen weiterlebte. Das Aussterben
nahm einem selbst diesen Trost. Aussterben bedeutete nämlich
nicht nur das Ende des eigenen Lebens, sondern auch das der Kinder,
der Enkelkinder und überhaupt aller Angehörigen der eigenen
Art bis zum Ende aller Zeiten; das Leben würde weitergehen, aber
nicht für die eigene Art.
So schrecklich es auch war, das Artensterben war ein ganz normaler
Vorgang. In der Natur wimmelte es von Arten, die durch Konkurrenz
oder Symbiose miteinander verbunden waren und die alle ständig
ums Überleben kämpften. Niemand konnte immer nur gewinnen;
ein Scheitern war immer möglich, ob durch bloßes Pech,
Naturkatastrophen oder das Eindringen eines besser ausgestatteten
Konkurrenten, und der Preis des Scheiterns war immer schon das
Massensterben gewesen.
Der Kometeneinschlag hatte jedoch ein Massensterben verursacht,
und zwar eins der schlimmsten in der langen Geschichte dieses
geschundenen Planeten. Der Tod suchte jedes biologische Reich heim,
an Land, im Meer und in der Luft. Ganze Arten-Familien, ganze
Königreiche verschwanden im Mahlstrom der Katastrophe. Es war
eine große biotische Krise.
Und in einer solchen Zeit kam es auch nicht mehr darauf an, wie
gut man sich angepasst hatte, wie erfolgreich man vor den
Räubern floh oder mit den Nachbarn konkurrierte – weil die
Spielregeln sich grundlegend geändert hatten. Bei einem
Massensterben zahlte es sich aus, klein, zahlreich und weit verstreut
zu sein und eine Versteckmöglichkeit zu haben.
Und was entscheidend war, man musste imstande sein, andere
Überlebende zu fressen.
Doch selbst dann hing das Überleben ebenso vom Zufall wie von
guten Genen ab: also nicht nur von der Evolution, sondern auch vom
Glück. Trotz der geringen Größe und der
Fähigkeit, sich zu verstecken, war über die Hälfte der
Säugetiere mit den Dinosauriern ausgelöscht worden.
Trotzdem gehörte den Säugetieren die Zukunft.
Das Euoplo war sich nicht einmal bewusst, dass die Beine
einknickten. Aber es spürte plötzlich eine feuchte
Kälte am Bauch und – weil der Kopf ins Wasser hing –
einen salzigen Geschmack im Mund.
Das Tier schloss die Augen, und die gepanzerten Lider blendeten
das Licht aus. Der Saurier stieß ein tiefes Brummen aus, ein
Geräusch, das andere Exemplare seiner Art noch kilometerweit
entfernt gehört hätten, und spuckte die Brühe aus.
Dann zog er sich in die knochige Rüstung zurück wie eine
Schildkröte in ihren Panzer. Bald hatte er das Gefühl, den
auf den Sand und aufs Wasser prasselnden Regen nicht mehr zu
hören und auch nicht das Trippeln der hässlichen kleinen
Kreaturen, die um ihn herumschlichen.
Bis zum letzten Moment verspürte er keinen Frieden, nur einen
großen reptilienhaften Verlust. Aber er spürte kaum
Schmerz, als die spitzen kleinen Zähne sich an die Arbeit
machten.
Dieser letzte große Dinosaurier war ein Vorrat an Fleisch
und Blut, von dem sich die zänkische Tierhorde eine Woche lang
ernährte.
Als schließlich der saure Regen die großen angenagten
Rückenplatten des Euoplos schneeweiß verfärbte,
begegneten Purga und Letztes einer kleinen Gruppe Primaten. Die
meisten waren so alt wie Letztes oder noch jünger; sie waren
wahrscheinlich schon nach dem Einschlag geboren worden und hatten nie
etwas anderes kennen gelernt als diese desolate Welt. Sie waren mager
und wirkten hungrig. Entschlossen. Zwei von ihnen waren
Männchen.
Sie rochen merkwürdig und waren nicht einmal entfernt
verwandt mit Purgas Familie. Aber sie waren unzweifelhaft Purgatorius. Die Männchen interessierten sich nicht
für Purga; ihre Ausdünstungen sagten ihnen, dass sie schon
zu alt war, um noch Nachwuchs zu bekommen.
Letztes warf ihrer Mutter einen letzten Blick zu. Und
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