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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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waren
Pflanzen wie der Bodenfarn bis auf die Wurzeln und Rhizome
abgestorben und wären bald unter einer Schicht aus Eis und
Schnee in der Erde versiegelt.
    Die hier vorkommenden Spezies waren aus alten Stämmen
hervorgegangen, die an die milden klimatischen Bedingungen der Tropen
angepasst waren und hatten es nur mit größter Mühe
geschafft, unter den extremen Bedingungen des Pols zu überleben.
Jede Pflanze, egal wo sie wuchs, war zwecks Energiezufuhr und
Wachstum auf Sonnenlicht angewiesen, und während des endlosen
Sommers war die Vegetation mit großen eckigen Blättern
förmlich zur Sonne empor geschwappt. Doch nun nahte eine
Jahreszeit, wo es für Monate kein Licht geben würde
außer dem Mond- und Sternenlicht. Das war aber zuwenig
fürs Wachstum: Wenn die Pflanzen weiter gewachsen wären und
geatmet hätten, dann hätten sie den gesamten Energievorrat
verbraucht. Also hatte die Flora sich auf einen Pflanzen-Winterschlaf
eingerichtet, wobei jede Art ihre eigene Strategie verfolgte.
    Und so schliefen auch die Pflanzen.
    Die Notharctus-Sippe bestand aus dreißig Mitgliedern, die
sich in den Ästen einer großen Konifere versammelt hatten.
Sie sahen aus wie große pelzige Früchte. Im Schlaf
klammerten sie sich mit Händen und Füßen an den
Ästen fest. Die Köpfe hatten sie an die Brust gelegt und
die Rücken der Kälte zugewandt. Reif glitzerte auf dem
neuen Winterfell, und wo eine Schnauze hervorlugte, entströmte
blau-weißer Atem.
    Noth verschlief die langen Nächte. Sein Fell sträubte
sich durch die Körperwärme der anderen Sippenmitglieder.
Manchmal träumte er auch. Er sah seine Mutter den Mesos ins Maul
fallen. Oder er war allein auf einer offenen Fläche, von gierig
schauenden Räubern umzingelt. Oder er war wieder ein Baby und
wurde von einer Sippe von Erwachsenen verstoßen, die
größer und stärker waren als er – ausgeschlossen
durch Regeln, die er nicht instinktiv verinnerlicht hatte. Manchmal
verblassten diese Träume jedoch, und er fiel in eine Art Starre,
eine Trance, die die langen Monate des Winterschlafs vorwegnahm.
    Einmal wachte er nachts zitternd auf, sodass die Muskeln Energie
verbrennen mussten, um ihn am Leben zu erhalten.
    Die schlafende Welt war voller Licht: Der volle Mond stand hoch am
Himmel, und der Wald glühte blau-weiß und schwarz. Lange,
scharf konturierte Schatten zogen sich über den mit Kompost
bedeckten Boden, und die senkrechten Stämme der blattlosen
Bäume ließen die Szene in einer unheimlichen geometrischen
Präzision erscheinen. Aber die knorrigen Äste weiter oben
waren ein komplexerer und bedrückender Anblick. Die kahlen und
mit glitzerndem Frost glasierten Hölzer bildeten einen krassen
Kontrast zum warmen grünen Glühen der Blätter im
Hochsommer.
    Dennoch war es eine auf ihre Art schöne Szene, und hier
bewährten sich auch Noths große archaische Augen. Sie
lösten Details und subtile Farbnuancen auf, die einem Menschen
verborgen geblieben wären. Doch alles, was Noth wahrnahm, war Mangel: ein Mangel an Licht, an Wärme, an Nahrung –
und ein Mangel an familiärer Nähe in dieser Gruppe von
Fremden. Er hatte nur seine Schwester, deren noch wachsender
Körper irgendwo in der zusammengedrängten Sippe verborgen
war. Und er wusste im tiefsten Innern, dass der eigentliche Winter
erst noch bevorstand: die über lange Monate sich hinziehende Art
von Agonie, während sein Körper sich selbst verzehrte, um
ihn am Leben zu erhalten.
    Er krümmte sich auf dem Ast und versuchte, tiefer in die
Gruppe einzudringen. Die Erwachsenen wussten, dass es in ihrer aller
Interesse lag, wenn sie sich abwechselnd am Rand der Gruppe
platzierten und für kurze Zeit der Kälte aussetzten, um die
anderen zu schützen. Es hatte niemand etwas davon, wenn die
außen Liegenden erfroren. Jedoch war Noth durch seinen niederen
Rang benachteiligt, und als die anderen schläfrigen
Männchen seinen Geruch wahrnahmen, schoben sie ihn mit vereinten
Kräften zurück, sodass er wieder genauso exponiert war wie
zuvor.
    Er hob den Kopf und stieß einen traurigen Laut aus.
    Diese Primaten spendeten sich gegenseitig keinen Trost. Noth
empfand die Fellpflege als angenehm, aber nur bezüglich seiner
eigenen körperlichen Empfindungen und der Folgen, die es auf das
Verhalten der anderen ihm gegenüber hatte – nicht aber in
Bezug darauf, wie die anderen sich fühlten. Die anderen
Notharctus waren einfach nur ein Teil seiner Umwelt wie die Koniferen
und Podocarpus, die Jäger, Räuber und Beute:

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